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Rubrik: Freak Aktuell
22. März 2010

Webvideos und das Spiel mit der Wahrnehmung

von Jo Spelbrink

Das Internet mit seiner stetig wachsenden Leistungsfähigkeit setzt klassische Medienformate zusehends unter Druck. Was früher im Fernsehen oder im Radio nur zu festgelegten Zeiten empfangen werden konnte, erleben wir heute im Web zeitunabhängig und sogar barrierefrei – zumindest dort, wo die bestehenden technischen und gestalterischen Möglichkeiten schon wirklich genutzt werden.

Filmszene mit Untertitel (#indistinct Shout')

Filmszene mit Untertitel

Videos sind heute längst fixer Bestandteil des WWW. Durch Portale wie YouTube oder Vimeo haben sich neue Online-Medienformate für jedermann etabliert. Es wird kein spezielles technisches Fachwissen mehr benötigt, um Videos ins Internet zu stellen, zu verbreiten und sie mit anderen zu teilen. Jeder User kann praktisch seine eigene TV-Show veröffentlichen. Auf Ustream.tv sind sogar Liveübertragungen möglich, einzige Voraussetzungen: Computer, Webcam und Internetanschluss.

Aber was ist mit Menschen, die einen speziellen Wahrnehmungszugang zu Webinhalten (und zum Leben) haben?

Barrierefreiheit im Netz

Gehörlose oder stark schwerhörige Menschen können im Netz natürlich lesen, aber bei Videos entgehen ihnen das Gesprochene und verständnisrelevante Geräusche. Untertitel sind hier eine entscheidende Hilfe.

Blinde Menschen surfen auf Webseiten mit einer eigenen Vorlesesoftware, dem Screenreader. Etwaig vorhandene Alternativtexte können ihnen beschreiben, was auf Bildern zu sehen ist. Für ihre Videowahrnehmung wurden so genannte Audiodescriptions erfunden, das sind zusätzliche gesprochene Beschreibungen von Szenen.

Für Menschen mit motorischen Einschränkungen ist der Umgang mit einer Computermaus oft schwierig, weshalb etwa auf die Steuerung über die Tastatur ausgewichen werden kann. Theoretisch.

Oft bleibt es noch bei der guten Absicht

In der Praxis können gerade die Steuerelemente von Webvideoplayern mit Screenreadern oder über die Tabulatortaste nicht bedient werden. Die meisten Webvideos werden über Flash-Videoplayer abgespielt, und gerade Flash-Inhalte sind wegen einer noch recht unzulänglichen Implementierung des Flash-Plug-in oft nicht ansteuerbar. Webvideoplayer, die dank HTML5 inzwischen komplett ohne Flash auskommen, funktionieren nur auf den neueren Webbrowsern.

Wenn Websites nicht barrierefrei und standardkonform sind, surft ein blinder User selbst mit Screenreader durch ein Labyrinth (oder für Sehende: durch einen seitenlangen Text ohne jegliche Gliederung). Denn oft fehlt es an einer semantisch sinnvollen Struktur, die das gezielte Ansteuern von Inhalten erst ermöglichen würde. 

YouTube bietet inzwischen Möglichkeiten an, Videos über einen eigenen Online-Editor zu untertiteln. Es gibt mittlerweile auch spezielle Schnittstellen. So werden einfachere und zugänglichere Videoplayer, wie der vom weltbekannten Webentwickler Christian Heilmann gemeinsam mit Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelte „Easy YouTube“, möglich. 

"Blinder Fleck" dabei: Die Untertitel bei YouTube sind noch nicht gut leserlich und verfügen über keine fixe Zeilenposition. Die unterste Position ist stets die erste Zeile, bei zweizeiligen Untertiteln rutscht die Position der ersten Zeile nach oben. Dasa ist dann ein Kontrast zur gewohnten Untertitelung in TV oder Kino, die eine fixe erste Zeile verwendet und wenn nötig nach unten hin weitere Zeilen einblendet. 

Was nehmen Webentwickler und -designer wahr?

Viele Webentwickler oder -designer glauben, Barrierefreiheit hätte nur mit Menschen mit Behinderung zu tun. Doch diese Sichtweise greift zu kurz, denn jeder Mensch hat eigene Wahrnehmungspräferenzen. Und Webdesigner kommen oft gar nicht auf die Idee, dass virtuelle Barrierefreiheit auch für die dienlich ist.

Aber man braucht sich nur vorzustellen, gerade an einem Computer ohne Lautsprecher zu sitzen und ein Video sehen zu wollen. Da begreift man, dass Untertitel selbst für den „normalen“ User hilfreich sind. Genauso schätzt jeder eine übersichtliche Website-Struktur. Für einen blinden User ist sie nur noch wichtiger. Übrigens nicht nur für ihn, sondern auch für Suchmaschinen: Google ist sozusagen der größte blinde User, der eine gut strukturierte Website entsprechend besser auffindet.

Ein interessantes Beispiel, wenn auch nicht gerade für die Barrierefreiheit an sich, ist auch das Translationsprojekt von www.pted.com. Hier gibt es sehr inspirierende englischsprachige Vorträge zu vielen verschiedenen Themen von mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten und dazu jede Menge Untertitel. Durch das Projekt werden die Vorträge daher auch für Gehörlose zugänglich, und wie in den oben genannten Beispielen hat auch der unbeeinträchtigte User was davon, etwa wenn er kein Englisch spricht.

Es geht also darum, Barrierefreiheit als Chance zu begreifen, denn sie kann sogar zum Wettbewerbsvorteil werden. Mit Barrierefreiheit erreicht man viel mehr Menschen, als die klassischen Zielgruppendefinitionen es weismachen wollen. Bisher verstellt auch bei Webdesignern die Gewohnheit oft den Blick auf ungenutzte Potenziale.

Barrierefreiheit braucht beides: Technik und Gestaltung

Technik allein sichert noch keine optimale Zugänglichkeit. Barrierefreiheit im Web ist nicht nur eine technische Frage, sondern auch eine Gestaltungsfrage.

Die Mängel sind oft nicht nur eine Folge fehlenden Bewusstseins, sondern manchmal auch unvermeidbar durch eingeschränkter Ressourcen. Viele Contentmanagementsysteme (CMS) zum Beispiel, mit denen sich Inhalte von Websites ohne technischen Aufwand einpflegen lassen, haben zwar CMS-Erweiterungen oder -module für Webvideos, bieten aber selbst keine barrierefreie Anwendung.

Deswegen sind viele Videos mit im Film direkt eingebetteten Untertiteln versehen, sogenannte Open Captions, welche nicht ausblendbar sind (z.B. die Videos auf www.freak-online.at/videocast.html aus dem Jahre 2008). Closed Captions können jedoch eingeblendet werden und sind in einem standardisierten Format als Datei eingebettet. Diese haben den Vorteil, dass die Inhalte von Untertiteln sogar über Suchmaschinen gefunden werden können. Technik und Gestaltung bilden daher eine Symbiose, durch die beide erst ihre volle Leistungsfähigkeit im Web erreichen. Doch dieses Verständnis ist nach wie vor selten anzutreffen.

Es besteht aber Grund zur Hoffnung, dass die Erfordernisse der Barrierefreiheit in Zukunft mehr und mehr erkannt und erfüllt werden. Denn die Entwicklung im Internet schläft ganz und gar nicht. Und letztlich ist alles nur eine Frage der Perspektive in einer vernetzten Welt.

Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projektes "Lebens- und Arbeitswelten" erschienen. 


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