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Rubrik: Lesen statt Hören
29. Juli 2007

Unsichtbare Welt

von Stella Damm und Philip Scheiner

Augen zu - Ohren auf! Dieses Feature von Julia Wolkerstorfer und Chris Egger beschreibt, wie Menschen, die nicht sehen und teilweise nie gesehen haben, ihre Umwelt wahrnehmen. Sie verlassen sich dabei vorwiegend auf ihr Gehör und ihren Tastsinn. Dass ein Zimmer vier Wände hat, sehen wir. Wie es klingt, wissen nur wenige.

Anna Kofler: Man wird oft gefragt "Was ist leichter zu ertragen: Wenn man nie etwas gesehen hat oder wenn man plötzlich nichts mehr sieht?".

Freak-Radio: Unsichtbare Welt - Vom Hören und Spüren blinder Menschen

Anna Kofler: Es ist so, dass sich bei manchen Verrichtungen einer, der früher gesehen hat, leichter tut. Zum Beispiel beim Essen mit Messer und Gabel, weil er das ja schon immer so gemacht hat und in der Hand hat, im Gegensatz zu einem, der das als Kind nicht nachahmen konnte, nicht gesehen hat und man hat ja früher auch nicht Wert darauf gelegt. Wir haben nie ein Messer in die Hand bekommen, ich lasse mir heute noch das Fleisch schneiden.

Freak-Radio: Ein Feature von Chris Egger und Julia Wolkerstorfer. Musikalische Beatmung: Otto Lechner.

Sandra Markovic: Wenn man das Visuelle verliert, also wenn man sich nicht auf das Bild konzentrieren kann, dann muss man sich einfach auf andere Sinne verlassen. Ich nehme den Raum eigentlich durch andere Sinne wahr, vor allem durch die Ohren. Die erklären mir einfach den Raum. Wenn ich einen Raum betrete sagt mir mein Gefühl wie groß er ist, mein Gefühl sagt mir dann auch wie die Atmosphäre drinnen ist und die Ohren eigentlich wie groß er ist.

Andreas Leimer: Ich stehe in der Mitte eines Ziffernblattes, vor mir ist zwölf, hinter mir ist sechs, links ist neun, rechts ist drei. Rechts vorne ist dann eins und zwei und so weiter und so kann man einem Blinden sehr gut Richtungen angeben. Ansonsten funktioniert die Orientierung hauptsächlich über die Ohren. Man kann ja sehr gut hören wie groß ein Raum ist, je nachdem wie stark er hallt. Wie hoch er ist kann man auf diese Weise auch sehr gut hören.

Freak-Radio: Ohren auf, Augen zu. Kein Licht, keine Farben, keine Bilder. Ein Leben in der Dunkelheit, in fensterlosen Räumen ohne Horizont. Was für Sehende normal ist, gibt es nicht. Alle Räume bestehen aus Begrenzungen und Hindernissen. Jederzeit Verletzungsgefahr, permanente Orientierungslosigkeit. Nur wenn die Welt klingt, existiert sie.

Andreas Leimer: Als Musiker nehme ich die Umwelt natürlich als ständige Klang- und Soundcollage wahr. Ich gehöre zu den Leuten die auch das Geräusch auf der eigenen Terrasse oder in der Stadt als Musikkomposition sehen können, die ganz faszinierend ist. Wenn man sich da einmal ein bisschen hinein vertieft und hinein kippt dann ist das etwas ganz Spannendes.

Manchmal singe ich ein bisschen. Wenn mich wirklich interessiert was der Raum kann und wie der beschaffen ist, dann ist ein bisschen Singen und Klatschen natürlich immer gut, aber eigentlich braucht man das nicht. Da genügt das normale Da-Sein um einmal abzuschätzen könnte das mein Raum sein, möchte ich hier bleiben oder möchte ich lieber gehen. Durch Singen oder überhaupt durch Sound hat man sehr schnell einmal heraußen ob der Raum rechteckig ist oder ob er rund ist und wie groß er ungefähr ist. Das ist mit ein bisschen Routine schnell heraus zu finden.

Anna Kofler: Ich habe immer gehört, bevor man an eine Wand stößt hört man das. Ich habe immer gedacht dass das mit dem Hören nichts zu tun hat, aber man spürt das. Bevor man ganz dort ist hat man das Gefühl dass etwas auf einen zukommt und da weicht man unwillkürlich ein bisschen zurück. Wissenschaftlich heißt es, das hat mit dem Gehör zu tun und das wird schon so sein, nur im hohen Alter, wie das jetzt bei mir ist, merke ich, dass das nicht mehr so deutlich zu spüren ist. Ich stoße jetzt leichter irgendwo dagegen.

Freak-Radio: Die Sehenden können ihre Umgebung, den Raum in dem sie sich bewegen, den Platz den sie haben, immer genau klassifizieren. Hier ein Baum, dort ein Verkehrsschild, Achtung ein Hundekothaufen, eine entgegenkommende Gruppe von Menschen, rücksichtslos in ihrer körperlichen Hier-sind-wir-Präsenz, eine Kette als Absperrung oder eine beliebige Achtlosigkeit herumstehender Sessel. Lauter Harmlosigkeiten, denen mit Leichtigkeit ausgewichen werden kann. Sehende flanieren gemächlich auf breiten Wegen, sie ruhen sich beim gefahrlosen Herumspazieren aus und schreiten zielstrebig auf angepeilte Punkte zu. Probiert es einmal ihr Sehenden mit Höhenangst, steigt auf ein Podest mit dreißig Zentimetern Höhe und schließt die Augen. Stellt euch vor, ihr steht vor einem Abgrund von fünfzig Metern, unter euch eine glatte Felswand. Oder ihr befindet euch auf dem Dach eines Hochhauses mit den Zehenspitzen in Absturzgefahr. Alles nur Einbildung.

Sandra Markovic: Eine mutige Situation für mich war, als ich das erste Mal klettern war. Letztes Jahr habe ich dort angerufen um mich zu informieren wie die Kurse sind und was sie kosten und so weiter. Und ich habe mir überlegt ob ich sagen soll dass ich blind bin, oder nicht dass ich blind bin. Dann habe ich mir gedacht, ich will die Leute nicht schockieren, ich sag es einmal, ich frage den Typen wie es aussieht, ob ich auch blind klettern kann. Dann habe ich gesagt ich habe vieles über die Preise erfahren, wann die Kurse sind und ich habe nur gesagt: ich habe ein kleines Problem. Dann hat der Typ gesagt ja was denn für eines? Und ich sage zu ihm: "Ich bin blind." Dann hat man ungefähr zwei Minuten nichts mehr gehört und dann habe ich angefangen zu lachen, ich habe mit jetzt gedacht ok, der wird jetzt sagen das geht sowieso nicht, blablabla und ich musste lachen, weil er schockiert war und dann hat er total super reagiert als er gesagt hat: "Weißt du was Sandra, wenn du damit klar kommst dass du blind kletterst, dann kommen die Kletterpartner und sonstige Lehrer und so weiter auch mit dir klar." Und ich fand das super, deshalb habe ich mich ziemlich mutig gefühlt als ich das erste Mal da auf der Wand hing.

Andreas Leimer: Mut ist einfach aus dem Haus zu gehen.

Otto Lechner: Einen Stock habe ich immer gerne bei mir, der ist nicht unbedingt lebensnotwendig, aber ein sehr praktisches Gerät weil wenn du die langsam bewegst du zumindest nicht über große Sachen stolperst oder in Abgründe fällst. Soweit reicht es dass man sich einfach in eine geschätzte Richtung irgendwie weiter bewegt und letztendlich muss man dann schon wieder schauen dass man wohin kommt wo man etwas hört, wo sich irgendetwas ereignet das irgendwie wiederum auf Menschen schließen lässt und dort schauen dass man weiter kommt. Wobei das Fragen natürlich auch immer schwierig ist, weil es kennt wahrscheinlich niemand diese Situation dass man wirklich auf ein völlig unbekanntes Wesen zugeht, wenn man es nicht vorher mit jemandem anderen reden gehört hat. Da ist es immer schwer wie man dieses Wesen dann anspricht zum Beispiel.

Andreas Leimer: Ich selber habe diesen Blindenstock immer sehr gehasst, ich habe das zuerst einmal als sehr große Brandmarkung empfunden. Später wurde mir dann bewusst, nachdem ich dieses Mobilitätstraining gehabt habe, dass das doch irgendwie für mein Leben notwendig sein kann, vor allem als ich meine erste Freundin gehabt habe, mit der ich mich vor allem brieflich verständigt habe und niemand Zeit gehabt hat den Brief auf die Post zu bringen, habe ich zum ersten Mal eben diese Initiative selber in die Hand nehmen müssen und bin mit diesem Stock zur Post gelaufen. Meine Hassliebe zu dem Blindenstock hat sich mittlerweile zu einer Vernunftliebe verändert. Ich weiß, dass ich diesen Stock wenn ich alleine unterwegs bin brauche und ich habe einfach das riesen-, riesengroße Glück dass ich eigentlich sehr selten so alleine unterwegs bin dass ich den Stock wirklich zum Einsatz bringen muss.
Man muss ja immer vorausdenken, man muss immer die Hauptmöglichkeiten was könnte denn jetzt alles passieren oder wie werde ich denn von der Straßenbahn zur nächsten kommen. Weiß ich das, kenne ich die Station? Und wenn da irgendwann ein paar solche Risiken zusammenkommen und ein paar so schwarze Löcher in der ungefähren Planung von dem was sich abspielen wird dann ist das Mut sich da ins Getümmel zu schmeißen. Es kann auch ein recht heldenhaftes Gefühl sein mit dem Stock über die Friedensbrücke zu gehen, je nachdem.
Die zweite Funktion des Stockes ist ja einen Lärm zu erzeugen, der sich bricht. Ich mache also ein "Klack" und das "Klack" wird von den Häuserwänden oder eben von der Umgebung zurück ge-echot. Dadurch hört man eigentlich an einem Geräusch das von irgendwo kommt oder das man selber erzeugt, ich kann auch einfach mit dem Finger schnippen, wie sich das Geräusch verhält. Daran höre ich auch Gegenstände, die eigentlich keinen Sound von sich geben, sondern die das nur brechen, die das nur reflektieren oder zurückgeben.

Freak-Radio: Mit den Ohren sehen, wie Dan Kish, der blinde Kalifornier. Er lauscht den Echos, die entstehen wenn er mit seiner Zunge schnalzt. Wenn er laut genug schnalzt erkennt er ein großes Gebäude bereits aus hundert Metern Entfernung, ein vielfaches der Reichweite eines Blindenstockes. Dan Kish wird der Fledermausmann genannt, von seinen Freunden auch Batman. Er klettert allein durchs Gebirge, zügig, stellenweise knapp am Abgrund entlang. Oder er kurvt mit dem Fahrrad durch die Stadt. Wenn er sich nicht auskennt sagen ihm die Schnalzlaute seiner Zunge wo er ist. Die Verzögerung bis der Schall als Echo zurückkehrt verrät ihm die Distanz. Dort, wo die Sehenden nicht mehr sehen können lauscht der Fledermausmann auf die Räumlichkeit. Seine Echo-Ortung ersetzt den Sehsinn weit über das Blickfeld eines Sehenden hinaus. Mit Zunge und Ohren über Stock und Stein. Frei zitiert nach einem Artikel aus dem Magazin "Der Spiegel" vom 24. Mai 2004.

Der beste Gefährte von blinden Menschen hat vier Beine und zwei Augen. Ein Mensch wird an die Leine genommen. Er wird gezogen, er wird geführt, er wird als Herrchen oder Frauchen akzeptiert. Jeder der beiden gehorcht dem anderen.

Andreas Leimer: Ich habe einen Führhund und der sichert mir das Gelände. Ich bin zwei Wochen bevor ich meinen Führhund übernommen habe, in eine Baugrube gestürzt, die nur mit einem Plastikband abgesichert war. Es war kaltes Wetter, ich habe eine Lederjacke angehabt und dürfte dieses Plastikband am Unterarm mit der Lederjacke berührt haben, habe es nicht gespürt und bin plötzlich zwei Meter tiefer im Gatsch gestanden. Das passiert mit Führhund nicht, vor so etwas hätte ich Angst wenn ich mit Stock ginge. Zum Beispiel, dass irgendwelche tektonischen Geschichten mich plötzlich niederreißen oder dass ein Fensterflügel irgendwo so offen steht, dass mir die Kante entgegen steht. Mit Hund habe ich kaum Angst vor irgendwelchen Geschichten.

Sandra Markovic: Ein schönes Gefühl für mich war, als ich das erste Mal ganz spät in der Nacht alleine nach Hause gelaufen bin, weil ich mich da ziemlich frei gefühlt habe. Ich hatte "Schieke", meinen Blindenführhund und wir sind ganz non-chalant die Neubaugasse hinunter gelaufen, es war halb vier in der Nacht. Ich habe mich mit Freunden getroffen, die wollten mich nach Hause begleiten, aber ich wollte das nicht. Ich habe mich super gefühlt, ich habe mich wirklich so gefühlt als ob ich auf dem Mount Everest oben wäre.

Freak-Radio: Angelangt am Gipfel des Berges. Begeistert rufen die Sehenden aus: "Welch ein herrlicher Ausblick! Seht die schneebedeckten Berge in der Ferne, die winzigen Spielzeugautos im Tal und da, den bunten Ballon am Horizont." Ansichtskartensehnsüchtige Blicke, freie Sicht für alle.

Andreas Leimer: Unser Haus liegt im Kamptal. Da ist ein Fluss, dann sind die Bahnschienen, dann ist eine kleine Straße und dann ist das Haus und dann geht es ein bisschen terrassenförmig zum Wald hinauf. Die oberste Wiese in unserem Garten liegt schon über dem Haus, sogar über dem Dach des Hauses und da hat man wirklich auch einen akustischen Ausblick. Man hört einfach unten in einer schönen Mischung das "Dahin-Getue" dieses kleinen Städtchens und den Zug ein bisschen, wenn er kommt und dort hört man etwas fahren. Und man spürt dass der Wind irgendwie von weit her kommt, da hat man Raum, da hat man so einen Freiraum den man auch wirklich hört. Man hört auch dass man da höher oben ist und dass da Platz ist.

Das Schöne aber wenn man am Land ist, ist dass es eben nicht diese Kakophonie ist, sondern dass es noch einzeln wahrnehmbare Geräusche sind. Obwohl sie weit weg sind, da gefällt mir auch ein Moped gut, wenn ich es höre, wie es von ganz weit kommt und vorbeizieht an mir. Da ist selbst ein Moped oder - wenn es nicht viele sind - ein Flugzeug auch etwas Schönes. Wenn es nicht dieser Wahnsinnspegel wird und nicht diese Dauergebräu ist, sondern wenn das noch so einzelne Phänomene sind, dann höre ich mir das gerne von ein bisschen weiter weg, weiter oben, an. Dann ist das etwas Schönes.

Sandra Markovic: Für mich gibt es jetzt keinen Horizont, alles ist Horizont um mich herum. Wenn ich draußen bin, wenn ich in der Natur bin, es ist alles grenzenlos. Es ist unendlich. Ich fühle mich dabei, vor allem wenn ich in der Natur bin, sehr wohl, ich fühle mich ziemlich frei. Ich mag keine engen Räume.

Freak-Radio: Wieviel Platz hat man in einer unsichtbaren Welt? Wird in Rufweiten-Metern gemessen? Dürfen sich Gerüche nahe kommen? Ist die Toleranzgrenze überschritten sobald ein Eindringling spürbar wird?

Andreas Leimer: Körperfurcht ist, dass sich einfach ein kleiner Teil in dir verkrampft weil da gerade schräg hinter dir ein Auto vorbeifährt. In einer engen Straßenbahn ist es schon so nicht schön, aber wenn man dann überhaupt nicht sieht was um einen herum vorgeht sondern das eigentlich nur spürt - und da ist es dann schon mehr Spüren als Hören - ist es immer ein hin und her. Einerseits muss man sich schützen und sollte eigentlich zumachen und andererseits muss man aber auch irgendwie wach bleiben weil man wiederum auf die Wahrnehmungen angewiesen ist.
Baustellen mag ich überhaupt nicht. Baustellen sind für einen Blinden ungefähr so wie Scheinwerferlicht ins Gesicht für einen Sehenden. Das überdeckt alles. Ich orientiere mich ja sehr viel akustisch und wenn da ein Presslufthammer in unmittelbarer Nähe hämmert tut das nicht nur weh, sondern ich höre auch den Verkehr nicht mehr und ich höre nicht mehr wo die nächste Hausmauer den Schall bricht und so weiter.
Ich fürchte mich total vor Vögeln, Vögel in einem Haus, die da herumflattern. Ganz schlimm ist es in einen Hintereingang von einem Haus hinein zu marschieren und die schrecklichste Vorstellung ist, wenn dann plötzlich ein Schwarm Tauben vor einem auffliegt. Ich habe das Gefühl das ist alles so bedrohlich und unkontrolliert und wirkt durch den Wind den diese Flügel machen so viel größer und mächtiger und bedrohlicher. Davor fürchte ich mich schon.

Sandra Markovic: Gestern Abend war da so ein Geräusch, ich bin auf dem Sofa gesessen. Ich wohne in einem Häuserkomplex mit sehr vielen Höfen und man hat aus dem zweiten, dritten Hof neben meinem Hof ein ganz komisches Geräusch gehört, das war wie so eine Art Geschrei. Als ob jemand ein kleines Baby aufschlitzen würde und meine Freundin und ich sind auf dem Sofa gesessen und haben uns nur gefragt ist das jetzt ein Mensch oder ein Tier? Das hat wirklich ziemlich arg geklungen. Sie hatte keine Angst, ich hatte aber ziemlich schlimme Angst. Ich kann das nicht erklären, ich konnte mich kaum bewegen.

Andreas Leimer: Vor zwei Tagen war ich am Römersteinbruch und habe mir Nabucco angehört und bei der Inszenierung haben die auch Böller abgeschossen und das war mir sehr unangenehm. Obwohl es sicherlich sehr eindrucksvoll war, die Leute haben mir erzählt, dass Feuersäulen aus diesen Böllern herausgeschossen sind - aber angenehm war es nicht. Auch solche Dinge empfinde ich als unangenehm.
Es kann sein, wenn ein Haus nur so eine Ecke in der Häuserfront hat, an der ich normalerweise vorbeigehe und von der ich eigentlich gar keine Notiz nehme, dass ich aufgrund spezieller Reflexionen und weil ich vielleicht an dem Tag etwas nervöser bin, plötzlich das Gefühl habe, dass eine Wand vor mir ist. Obwohl es nur ein kleines Eck ist, das eigentlich links von mir ist und an dem ich locker vorbeikomme aber wo man plötzlich fast zurückgestoßen wird, weil man das Gefühl hat, da ist eine Wand vor einem. Das sind sehr instabile Wahrnehmungen, die können wirklich sehr verschieden sein.

Sandra Markovic: Es stört mich wenn da zu viele laute Geräusche sind, da bin ich verloren. Vor allem wenn da Leute um mich herum sind, die versuchen sich mit mir zu unterhalten. Das kann ich einfach nicht, mir fehlt das Visuelle. Ich kann nicht in die Augen schauen, ich kann noch dazu nur schlecht hören wenn da zu viele Geräusche um mich herum sind und ich unterhalte mich dann gar nicht. Das ist ein richtiges Hiroshima im Kopf.

Freak-Radio: Sichtbar in der Welt die für sie unsichtbar ist. Das war für Blinde nicht immer selbstverständlich. Sehende verbinden sich die Augen um zu verstehen. Sie, die lange mit Blindheit geschlagen waren, beginnen langsam zu begreifen. Sie erweitern ihren Horizont indem sie ihre Augen schließen. Es hat lange gedauert bis die Blinden am allgemeinen Gesellschaftsspiel teilnehmen durften.

Anna Kofler: Früher einmal hat es geheißen "ernährt". Das war lange Zeit das Wichtigste. Ein Blinder sollte beschützt, ernährt, sein und ein Dach über dem Kopf haben. Dann kam die Zeit "belehrt" als man angefangen hat Blinde zu schulen und auszubilden und da hat man sie aber auch noch immer nicht ins Leben hinausgelassen. Dann war die Zeit "bewährt", also das Erlernte sollte sich bewähren. Da haben sich dann eben schön langsam Berufsmöglichkeiten aufgetan und junge Blinde wollten dann nicht mehr in einem Heim leben, sondern selbstständig sein. Es müssen dann nicht alle in ein Heim wenn sie alt sind.

Freak-Radio: Ohren auf, Augen zu. Weg mit der Dunkelheit, aus dem Weg mit den Hindernissen, Vorhang auf für ein Wunschkonzert.

Andreas Leimer: Also ich stelle mir kurz einmal vor ich wäre Gott: Eine Welt die ich kreieren würde wäre harmonisch, wäre aber nicht fad. Wenn ich mir den Garten Eden vorstelle dann würde mich das eher langweilen, wenn lauter satte, zufriedene Leute lächelnd herumsitzen und Früchte essen, aber nicht die verbotenen. Das ist mir zu fad. Es dürfte schon auch gestritten werden in meiner Welt. Meine Welt wäre natürlich bunt, das ist das Wunschdenken wahrscheinlich jedes Blinden, dass er in einer bunten Welt leben würde. Meine Welt wäre aber auch sehr musikalisch, meine Welt wäre erfüllt von Vogelgezwitscher zum Beispiel und auch von singenden Leuten.

Andreas Leimer: Wenn ich die Welt neu erfinden könnte würde ich wahrscheinlich das Beamen erfinden weil das sehr praktisch wäre. Aber das ist natürlich jetzt etwas ganz Persönliches weil ich einfach viel reisen muss. Auf der anderen Seite ist es dann aber ganz schrecklich wenn man dann plötzlich jemanden im Wohnzimmer stehen hat, den man nicht haben will. Wenn irgendein Peruaner plötzlich bei dir im Wohnzimmer steht, nur weil du gerade etwas Gutes kochst.

Sandra Markovic: Eine neue Welt würde für mich ziemlich bunt ausschauen. Ich liebe Farben, ich liebte Farben, ich weiß was Farben sind und für mich bedeuten Farben Leben, Lebendigkeit, Energie, grenzenlos bunt und mit positiver Energie geladen.

Andreas Leimer: Ich glaube die Welt in der wir leben ist groß genug, ich würde sie nicht größer dimensionieren als die in der wir leben, aber auch nicht viel kleiner, das passt schon so. Ich glaube alles in allem ist die Welt in der wir leben ohnehin gut, ich hätte nicht viel umzubauen.

Freak-Radio: Eine Einsicht in ihre unsichtbare Welt gestatteten: George Nussbaumer, Musiker, seit Geburt blind.

George Nussbaumer: Wenn ich sehen könnte, könnte ich mir durchaus vorstellen dass ich schon längst bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen wäre.

Freak-Radio: Sandra Markovic, Dolmetscherin, blind seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr.

Sandra Markovic: Wenn ich sehen könnte, würde ich all das sehen wollen, was ich in den zwanzig Jahren nicht gesehen habe. Zum Beispiel viele Länder bereisen, ich würde gerne das Bild komplettieren. Würde ich sehen, würde ich dann wieder nach Brasilien reisen und schauen ob das visuelle Bild mit der hörbaren Welt im Einklang ist. Das würde mich sehr interessieren.

Freak-Radio: Andreas Laimer, Masseur, seit seinem zwanzigsten Lebensjahr nahezu blind.

Andreas Laimer: Wenn ich sehen könnte, dann würde ich in der gleichen Welt leben wie jetzt, nur würde ich sie wahrscheinlich weniger hören und weniger tasten und dafür hätte ich auch farbliche Eindrücke davon.

Freak-Radio: Otto Lechner, Musiker, von Geburt an stark sehbeeinträchtigt, im Alter von fünfzehn Jahren ganz erblindet.

Otto Lechner: Ich würde schon gerne Menschen sehen und gerne visuell wahrnehmen wollen.

Freak-Radio: Anna Kofler, pensionierte Lehrerin, seit Geburt blind.

Anna Kofler: Ich kann mich sehr gut erinnern, als ich so herangewachsen bin hätte ich immer sehr gerne gewusst wie das ausschaut wenn jemand freundlich dreinschaut oder finster. Wie das anatomisch ist weiß man ja, aber das hätte mich immer sehr interessiert.

Freak-Radio: Vom Hören und Spüren blinder Menschen. Gestaltung: Julia Wolkerstorfer und Chris Egger. Musikalische Beatmung: Otto Lechner. Gesprochen von Stella Damm und Philipp Schreiner.

Sie hörten eine Sendung der Schwerpunktreihe "Selbstbestimmt mit allen Sinnen - Wege zur Gleichstellung, Wege ohne Diskriminierung" die vom Bundessozialamt aus Mitteln der Beschäftigungsoffensive der österreichischen Bundesregierung gefördert wird.


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