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Rubrik: Freak Aktuell, Newsletter Versand, Lebens und Arbeitswelten
02. Juni 2010

Telekommunikation und gehörlose Menschen: Ein Widerspruch?

von Gerhard Wagner

Lukas Huber vom Österreichischen Gehörlosenbund führt im Interview mit Gerhard Wagner von Freak-Online aus, warum auch Menschen, die nicht oder schlecht hören, gerne Handys benutzen. Dabei geht er zunächst auf die technischen Entwicklungen ein, die das Telefon im Lauf der Zeit für die Zielgruppe gehörloser User gebracht hat.

Mann mit Lockenkopf und dunklem Hemd

Lukas Huber

Freak-Online: Das Telefon ist für gehörlose Menschen an sich ja unbrauchbar. Welche Möglichkeiten hatten gehörlose Menschen vor der Entwicklung des Handys?

Lukas Huber: Die erste Möglichkeit der Telekommunikation für gehörlose Menschen ergab sich erst im Jahr 1964. Da entwickelte der gehörlose Physiker Robert H. Weitbrecht gemeinsam mit James C. Marsters und Andrew Saks in Kalifornien ein Telekommunikationsgerät (telephone typewriter), das anstelle von Sprechlauten nur Schriftzeichen bzw. Text übermittelt und empfängt. Seitdem waren die ersten Schreibtelefone – wenn auch voluminös und kostspielig – speziell für gehörlose Menschen am Telefonnetz in den USA in Betrieb.

Damit war für gehörlose Menschen erstmals direkte Telekommunikation in Echtzeit möglich. In den 80er Jahren wurden immer kleinere und handlichere Schreibtelefone mit Buchstabentastatur entwickelt, entweder mit Papierstreifen oder kleinem Display unabhängig voneinander in den USA und in europäischen Ländern.

Leider konnte man damals von Österreich aus mit dem Schreibtelefon nur Deutschland und die Schweiz erreichen. Damals gab es  zwar weltweit verschiedene Schreibtelefonsysteme, aber sie waren zueinander nicht kompatibel. Später galt das Schreibtelefon wieder als veraltet, als das Faxgerät den Einzug in die Büros und private Haushalte fand.

Einige Jahre später kam der Siegeszug des Internet und damit auch die Anwendungen der mobilen Telekommunikation.

Freak-Online: Mit dem SMS ist ein Feature eingeführt worden, das auch für gehörlose Menschen verwendbar ist. In welchen Lebensbereichen nutzen Sie es? Welchen Stellenwert messen Sie dieser Technologie bei? Ist es für Sie im Leben eher sehr wichtig oder eher unwichtig?

Lukas Huber: Ich verwende SMS mit Personen, mit denen ich häufig in Kontakt stehe, sei es Familie, Freunde, Bekannte...

Auch wenn mit SMS keine direkte Telekommunikation möglich ist, so ist sie für mich eine unverzichtbare Anwendung: Früher konnte ich meistens nur Zuhause nachschauen, ob eine Faxnachricht für mich angekommen ist. Dadurch war ich nicht erreichbar, wenn ich außer Haus war.

Seit praktisch jeder SMS anwendet, ist es eine große Erleichterung für mich. Dadurch bin ich mit Handy überall erreichbar, egal ob zu Hause oder am Arbeitsplatz. Eine Einschränkung muss man dabei in Kauf nehmen: Mit SMS ist keine Echtzeit-Kommunikation möglich wie mit einem klassischen Sprechtelefon, das wäre wichtig - etwa bei Notfällen.

Freak-Online: Das Web 2.0 hat auch das Handy erfasst: E-Mail, Twitter, Facebook und andere Kommunikationssysteme sind mittlerweile für viele Menschen selbstverständliche Begleiter geworden. Wie sehr nutzen gehörlose Menschen diese Medien und in welchen Situationen profitieren sie besonders?

Lukas Huber: Mit der Verbreitung des Internet bekamen gehörlose Menschen bisher ungeahnte Möglichkeiten der Kommunikation. Früher war es nicht möglich, weil nur der Ton über die Telefonleitung übertragen wurde. Heute können auch visuelle Medien wie Texte, Bilder, Videos, usw. übertragen und kommuniziert werden.

Gehörlose Menschen können ihre Horizonte ausweiten, auf die Informationen in barrierefreien Formaten zugreifen, weltweit, aktuell, in verschiedenen Sprachen einschließlich in verschiedenen Gebärdensprachen. Sowohl hörende als auch gehörlose Menschen können ihre Gebärden-, Lese- und Schreibkenntnisse ausbauen.

Freak-Online: 2006 haben Sie eine Unterschriftenaktion für ein Telefon-Relay Center eingebracht: Welchen Vorteil hätte dieses für gehörlose Menschen gebracht? In welchen Ländern gibt es solche Services? Wie hat die Politik in Österreich auf die Unterschriften reagiert?

Lukas Huber: Ein Telefon-Relay Center soll für gehörlose, hör- und sprechbehinderte Menschen einen österreichweiten Telefonvermittlungsdienst im 24-Stunden Betrieb anbieten. Dadurch können hör- und sprechbehinderte Menschen zu jeder Zeit mit hörenden, sprechenden Menschen in direkten Dialog treten  und umgekehrt.

Im Telefon-Relay Center ermöglichen

  • a) Dolmetscher/-innen (für Gebärdensprache) mittels Videotelefon bzw. Webcam und
  • b) Kommunikationassistent/-innen (für Schrift) mittels Chat, E-Mail, SMS und Fax

den gehörlosen, hör- und sprechbehinderten Personen den Kontakt mit hörenden Personen.

Für die direkte Telekommunikation in Echtzeit, wenn Informationen innerhalb kürzester Zeit ausgetauscht werden müssen, z.B. bei Notfällen, scheiden Anwendungen wie Fax, SMS und E-Mail aus. Ein Relay Service Center ist deshalb notwendig, in dem Anwendungen wie Video und/oder Chat zusätzlich integriert sind.

Telefon-Relay Service wird in vielen Ländern wie USA, UK, Australien, Neuseeland, Kolumbien, Schweden, Deutschland, Schweiz, Spanien, Frankreich, Italien etc. erfolgreich durchgeführt. Weitere Länder haben die Wichtigkeit dieses Service erkannt und werden folgen. Die Erfahrungen dort zeigen, dass der direkte Dialog in Echtzeit eine wichtige soziale und gesellschaftliche Funktion hat, die nicht durch SMS, E-Mail und Fax ersetzt werden kann.

Es gab Kontakte mit den Ressorts für Soziales und Infrastruktur (Post- und Telekommunikationswesen). Der Sozialminister war bereit, das Projekt finanziell zu unterstützen, bestand aber auf finanzielle Mitbeteiligung durch ein weiteres Ressort.

Der Infrastrukturminister hat die Zuständigkeit von sich abgewiesen, weil es sich um eine (alleinige) Maßnahme der Sozialpolitik handeln würde. Dem gegenüber steht, dass in Deutschland der Telefonvermittlungsdienst sowohl vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales als auch vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie initiiert und gemeinsam mit einer Anschubfinanzierung unterstützt wurde.

Freak-Online: Welche Forderungen haben Sie an den Staat und an die Betreiber? Welche speziellen Services würden Sie sich darüber hinaus wünschen?

Lukas Huber: Der Österreichische Gehörlosenbund ist der Meinung, dass ein Telefon-Relay-Service als Bestandteil eines flächendeckenden Universaldienstes im Österreichischen Telekommunikationsgesetz (TKG) gesetzlich verankert ist.

Wir fordern daher, dass

  1. das BMVIT das Telefon-Relay-Service als notwendigen Bestandteil des Universaldienstes anerkennt,
  2. die Erbringer der Grunddienstleistungen gemäß TKG verpflichtet werden, diesen Dienst gemeinsam zu finanzieren und
  3. wollen wir gesellschaftliche Inklusion im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (vgl. Artikel 9 und 21).

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