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Rubrik: Freak Aktuell
20. Dezember 2009

Selbstbestimmt Leben in Spanien

von Julia Karrer

„Was machst du in der Organisation?“

„In der DesOrganisation. Ich mache, was ich will.“ „Ich mache, was mir gefällt und Spaß macht.“ „Wir funktionieren nicht mit Pflichten, jeder macht, was er mag und kann.“ „Wir können dich unterstützen, aber wir übernehmen nie die Arbeit anderer.“

T-Shirt mit dem Aufdruck: "Nada sobre nosotros sin nosotros". Übersetzt: "Nichts über uns ohne uns"

Übersetzt: "Nichts über uns ohne uns!"

Mit diesen Worten charakterisiert der Mitgründer der spanischen Selbstbestimmt Leben Bewegung, Javier Romañach, die „DesOrganisation“ mit dem Namen „Foro de Vida Independiente“. „Wir sind wenige, aber wir gehen hinaus auf die Straße und fordern, was wir wollen. – Das ist wie ein großes Fest der Vielfalt.“

 

Von Anfang an

Das Foro de Vida Independiente (übersetzt: Forum Unabhängiges Leben) wird 2001 geboren, mit dem Ziel, die Selbstbestimmt Leben Bewegung in Spanien voranzutreiben. Im Gegensatz zu sonstigen NGOs, hat das Foro de Vida Independiente keinen Präsidenten, Vorstand, Sitzungen oder Wahlen. Genauso wenig verfügt das Forum über Budget.

Woran es allerdings nicht mangelt, ist an Ideen, Tatendrang und Internetzugang. Die Online Plattform bietet Platz für Information, Austausch und Networking. Interessierte finden hier Infos über aktuelle Events und Kampagnen, sowie Artikel, Publikationen und Arbeiten von AktivistInnen. Im Forum können die nächsten Aktivitäten und Projekte geplant und neue Kontakte hergestellt werden.

 

Die Idee

Die Organisation, die Menschen mit Behinderung in ganz Spanien repräsentiert und damit über 3 500 000 Betroffene vertritt, ist bekannt unter dem Namen CERMI (Comité Español de Representantes de Personas con Discapacidad). Diese versteht sich als Plattform, die mehr als 4 000 spanische NGOs und Organisationen zusammenfasst, darunter auch die Blindenorganisation ONCE, und sich für die Rechte und Interessen ihrer Mitglieder stark macht.

Das Foro de Vida Independiente bezeichnet sich als Gegenbewegung zu jenem mächtigen Konglomerat. Sie kritisieren die Tendenz der NGOs, sich dem medizinischen Modell zu bedienen, anstatt eines sozialen Modells. „Nicht mir geht es schlecht. Es ist die Gesellschaft, die schlecht ist. Die Gesellschaft muss sich ändern und sich an die Menschen anpassen, die anders sind“, so Javier Romañach. 

 

Behinderter Flieger

Mit dieser Lebensphilosophie, in der der Mensch und dessen Würde im Mittelpunkt stehen, werden auch gewisse alltäglich gebrauchte Ausdrücke obsolet. An Stelle von „discapacidad“ (zu Deutsch: Behinderung) spricht Romañach von „diversidad funcional“ oder „funktioneller Vielfalt“. – Ein Ausdruck, den er und sein Kollege Manuel Lobato geprägt haben.

Das Wort Behinderung habe nichts mit der Fähigkeit von irgendwem zu tun. „Kannst du fliegen?“ fragt der Informatiker, Autor und Behindertenaktivist. „Warum bezeichnest du dich dann nicht als behinderter Flieger?“ „Warum muss ich mich über etwas definieren, das ich nicht kann? Diese Definition kommt von Euch, nicht von uns. Ich definiere mich als jemand, der anders ist.“

 

Derechos Humanos ¡Ya!

Seit acht Jahren kämpft das Foro de Vida Independiente für Gleichberechtigung, die Aktivitäten sind vielseitig und reichen von politischen und soziokulturellen Aktionen hin zu Konferenzen sowie Märschen durch diverse Städte Spaniens. Es werden Artikel und Bücher geschrieben und herausgeben und man bemüht sich um direkte Kommunikation mit den politischen Parteien des Landes.

Dabei versteht die „DesOrganisation“ unter ihrer Rolle nicht die Sensibilisierung, sondern vielmehr die Verbreitung ihrer Philosophie. Sensibilisierung bedeute, dass sich die Umgebung etwas bewusst werden solle, so Javier Romañach. Für ihn sei es jedoch viel wichtiger, dass die Gesellschaft ihre Sichtweise ändere, oder wie er es formuliert „den Chip auswechsle“. 

 

Erfolge

So setzte sich das Forum beispielsweise für die Implementierung von Persönlicher Assistenz als Grundrecht für Menschen mit Behinderung ein. – Ein Recht, das in dieser Form in Spanien erst 2006 im Gesetz verankert wurde.

Eine Aktion des Forums, die Romañach besonders im Gedächtnis geblieben ist, war der erste organisierte Marsch durch Madrid. 1500 Menschen, angereist aus verschiedenen Orten Spaniens, waren plötzlich zusammen auf der Straße. Für ihn eine mächtige, energetische Erfahrung und eine Aktion, die daraufhin auch in anderen Städten, wie Málaga, Valencia oder in Straßburg, Frankreich stattfand.

 

Ich schenke dir einen Spiegel...

Jedes Mitglied des Foro de Vida Independiente entscheidet, was es beitragen möchte und kann. So gibt es diejenigen, die etwa ein Rockkonzert oder ein Theaterstück organisieren, diejenigen, die in Demonstrationen und Veranstaltungen auf der Straße aktiv sind oder diejenigen, die Bücher schreiben.

Javier Romañach konzentriert sich in erster Linie darauf, Bücher und Artikel zu verfassen, Konferenzen zu seinen Theorien abzuhalten sowie Politikern Besuche abzustatten und seine Gedanken zu verbreiten. Auf seiner Homepage Diversocracia können viele seiner Texte und Arbeiten sowie Auftritte in den Medien abgerufen werden.

Menschen, die ihn für seine Querschnittslähmung bemitleiden, schenkt er einen „espejo de tiempo“, einen „Zeitspiegel“:

„Wenn du dich in den Spiegel siehst, dann siehst du vielleicht eineN unabhängigeN EuropäerIn, fähig zu arbeiten, zu studieren, sein/ihr Leben in die Hand zu nehmen. Nun sieh dir ein Foto von dir an, als du drei Jahre alt warst und du wirst feststellen, dass du genau das gelebt hast, was mein Alltag heute ist. Deine Eltern haben dir beim Aufstehen und Schlafen gehen, oder auch beim Anziehen geholfen und sie begleiteten dich überall hin. Und nun sieh dir ein Foto deiner Großmutter an, die 80 Jahre alt ist, und du wirst merken, dass du nicht nur so warst wie ich, sondern dass du auch so sein wirst wie ich.“

Die Gesellschaft müsse erkennen, dass der Mensch zerbrechlich ist und dass die Sicherheit, die jeder in sich fühlt, weil er arbeitet, studiert, etc, eine Lüge sei. „Wenn du wissen möchtest, wie du in der Zukunft gut leben kannst, dann nimm mich ernst und hör mir zu. Der Trick ist, sich nicht in meine Situation hineinzuversetzen, sondern sich daran zu erinnern, was du über dich vergessen hast.“


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