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Rubrik: Lesen statt Hören
19. Juli 2016

Prater Menschenschauen

von Christoph Dirnbacher

Der Historiker Werner Michael Schwarz vom Wien Museum erzählt von den sogenannten "Menschenschauen" im Prater. Männer, Frauen und Kinder anderer Ethnien, beispielsweise aus Afrika wurden in eigens errichteten Dörfern halbnackt zur Schau gestellt.

Christoph Dirnbacher: Herzlich willkommen bei Freak Radio. Am Mikrofon begrüßt Sie Christoph Dirnbacher. Unser Thema heute sind Menschenschauen und insbesondere Freakschauen. Das Abnorme hat die Menschen schon immer fasziniert. Der Wiener Prater feiert heuer sein 250-jähriges Bestehen. Das ist Grund genug, zu beleuchten, was sich dort abgespielt hat. Zu diesem Berufe haben wir einen Historiker zu uns eingeladen. Werner Schwarz vom Wien Museum. Hand aufs Herz. Was kann man nach 250 Jahren über den Prater als Historiker noch neues, überraschendes finden?

Werner M. Schwarz: Das Tolle als Historiker ist, dass man immer von der Gegenwart ausgeht und die Fragen dadurch nie ausgehen. Es tauchen immer neue Fragen auf. Man hat den Prater wie alle anderen Orte der Stadt immer unterschiedlich interpretiert. Eine Zeit lang war der Prater ein ganz moderner Ort. Das ist schon eine bahnbrechende Geschichte, dass Josef der II. dieses ehemalige kaiserliche Jagdrevier wirklich der Bevölkerung zur Verfügung gestellt hat. Das war schon ein Highlight der beginnenden Aufklärung. Sozusagen brauchen die Bürger einen Ort, wo sie spazieren gehen können, der relativ nahe an der Stadt ist. Das Privileg des Adels wird reduziert. Insofern ist der Prater schon auch von der Idee Josef des II. her ein Denkmal der beginnenden Aufklärung. Wovon es in Wien gar nicht so viele gibt. Der Augarten wäre noch so ein Ähnliches. Aber im Prinzip kann man sagen, dass das schon ein Meilenstein von so einer Form, Demokratisierung wäre noch der falsche Begriff, ist. Aber es geht schon darum, dass sich die Bürger ein Arial aneignen können. Tatsächlich ist das eine Frage der Aneignung und auch der Partizipation und der Teilhabe. Das sind immer Fragen, die sowieso immer und auch jetzt wieder sehr aktuell sind. Der Prater ist für viele Fragen spannend. Zumal ist er so tief gesättigter kultureller Boden in Wien. Mit so viel literarischer Verewigung, mit so vielen künstlerischen Zugängen, mit so vielen politischen Fragen. Der 1. Mai und die erste Maidemonstration. Die erste 1. Maidemonstration fand im Prater statt. Alle modernen technischen Dinge tauchen erstmals im Prater auf. Sei es das erste Mikroskop, die ganzen Fahrgeschäfte, die ganzen Fragen von Sensomotorik und Wahrnehmung. Der Prater ist ein Ort, wo man sagen kann: Da wird die Stadt ständig gespiegelt und in gewisser Weise den Menschen auch die Möglichkeit gegeben, die Dinge auszuleben, die man vielleicht wo anderes nicht ausleben könnte.

Christoph Dirnbacher: Also ein bisschen so ein Ort wo das Verbotene Platz hat.

Werner Schwarz: Das ist natürlich auch ein interessanter Punkt, dass man sagt das Verbotene. Manchmal könnte man so ein bisschen in die Gefahr kommen, den Prater für einen ganz großen Freiraum zu halten. Das ist auch eine Diskussion, die man jetzt führen kann und die den Prater sehr interessant macht. Man sollte natürlich nie ganz vergessen, dass der Prater schon immer ein sehr reguliertes Gelände war. Es gibt zum Beispiel im Archiv, im Haus-, Hof- und Staatsarchiv wunderbare Akten über den Prater vom Obersthofmeisteramt. Eine besondere Eigenschaft vom Prater bis 1918 war auch, dass er kaiserliches Gebiet war. Damals gehörte er nicht der Stadt und auch nicht dem Staat. Er war immer noch dem Kaiser untergeordnet. Das heißt, dass die Praterunternehmer wirklich „Untertanen des Kaisers“ waren. Insofern ist es auch immer ein sehr reglementiertes Gelände gewesen. Es gibt dort Listen aus dem späten 19. Jahrhundert und aus dem frühen 20. Jahrhundert, wo offensichtlich schon sehr genau kontrolliert worden ist. Da wurde genau verzeichnet, wie viele Kinder man angetroffen hat, die unerlaubt Schneeballschlachten gemacht haben oder die dort unerlaubt Fußball gespielt haben. Aber gleichzeitig kann man schon wieder sehen, dass dort Fußball gespielt wurde. Das war ein Ort, wo sich Fußball in Wien überhaupt etablieren konnte und wo etwas hergezeigt wurde. Die neue und dann später so massenhaft wirksame Sportart. Diese Vielfalt, das macht den Prater vielleicht noch einmal ganz besonders im Vergleich zu vielen anderen städtischen Arealen anderer Großstädte. Da er eben so viel Funktionen hatte. Es gab diesen Wurschtelprater, den wir am ehesten mit dem Prater assoziieren. Dann gab es aber die Hauptallee. Das war lange Zeit eher so der Repräsentationsort des Hochadels. Dann gibt es die vielen Wiesen, wo dann Fußball gespielt worden ist, wo neuartige Freizeit- und Sportdinge ausprobiert worden sind. Dann gibt es natürlich die Sportstätten selbst. Das Stadion in den 30er Jahren war eigentlich ein wunderbarer Bau. Heutzutage sieht man das vielleicht nichtmehr so. Dass er sich einmal avanciert war eigentlich so als Stadionbau. Dann gibt es die Praterauen und da verschwimmen so ein bisschen die Kontrollmöglichkeiten. Also der Prater wird dadurch in der Literatur auch immer zu einem Ort von Verbotenem hochstilisiert. Als Ort verbotener Liebe, verbotener Duelle, da weiß man natürlich oft nicht ganz genau was wirklich vorfällt. Das ist eben auch literarisch sehr beackert. Die ganzen Wiener Autoren: Schnitzler, Salten, Hofmannsthal. Gerade dieses Wien um 1900 beschäftigt sich intensiv mit dem Prater. Als Ort der sexuellen und der erotischen Überschreitung, der sozialen Überschreitung, der Begegnung verschiedener Schichten, die den Prater so besonders machen.

Christoph Dirnbacher: Welche Attraktionen gab es denn im Prater um 1900?

Werner Schwarz: Bis in die 1870er Jahre muss man sich den Prater wahrscheinlich noch „relativ wild“ vorstellen. Also noch relativ unkontrolliert mit vielen Gasthäusern und einzelnen Attraktionen. Noch eher ein bisschen einfacher Natur. Schaukeln aber auch Panoramen. Also viele optische und visuelle Attraktionen. Ab den 1870ern wurde der Prater dann zur Weltausstellung reguliert. Das heißt, dass ein Ordnungssystem und geregelte Verhältnisse, wie man das in Wien sagen könnte, eingeführt wurden. Auch mit so disziplinierenden Maßnahmen. So gegen das späte 19. Jahrhundert wurden dann die Fahrgeschäfte und auch die Dinge, die man so sensomotorische Attraktionen nennen könnte, immer wichtiger. Also Dinge, wo man in die Höhe hinauf muss oder die Schimnitreppen. Also Treppen die entgegenlaufen, die man sich vorstellt, wie Rolltreppen, die gegeneinander laufen und wo man sich dann zurechtfinden muss. Zum Beispiel auch Dinge, wie Aufzüge und Rolltreppen. Alles das, was heute Inventar der Großstadt ist, wurde erstmals in verkleinerter oder in veränderter Form im Prater zur Schau gestellt. Hochschaubahnen tauchten dann um 1900 auf und viele dieser sensorischen Attraktionen verschwanden ein bisschen oder traten in den Hintergrund. Also so visuelle Attraktionen.

Christoph Dirnbacher: Punkto Menschenschauen: Was gab es denn da alles zu bestaunen im Prater?

Werner Schwarz: Das ist tatsächlich eine ganz eigenwillige Geschichte. Ab den 1870er Jahren, parallel zur Weltausstellung tauchte zunächst einmal eine Figur, die am Beginn dieser mitteleuropäischen Tradition, dieser Völkerschauen und Menschenschauen steht. Das ist Karl Hagenbeck. Er kam in den 1870er Jahren mit einer Nubiakaravane das erste Mal nach Wien. Er war eigentlich Tierhändler und hat Tiere an Zoos verkauft oder Tiere in Afrika angekauft und in Expeditionen zum Teil auch selbst gefangen. Dann hat er sie verkauft und ist auf die Idee gekommen, diese Tiere dann von Menschen aus diesen Regionen begleiten zu lassen. Das stand am Beginn dieser mitteleuropäischen Tradition dieser Menschenschauen. Es wurde aber sehr schnell, sehr professionalisiert. Die Idee, die dann dominant wurde ist, dass man ganze Dörfer aus Afrika begleitet. Man weiß tatsächlich überhaupt nie, wo die Menschen eigentlich herkommen. Aber es war in der Inszenierung so zu sehen, dass man die Menschen von Afrika nach Wien in den Prater verpflanzt. Vor allem ab den 1880er- und 1890er Jahren gab es dann im Prater ein eigenständiges Arial. Den ehemaligen Tiergarten. Wo man diese exotischen Menschendörfer errichtet. Man sieht natürlich schon am Ort, am Tiergarten, dass diese Menschenschauen so eine Bühne sind, um diesen scheinbaren Kontrast zwischen Natur und Zivilisation zu inszenieren. Natürlich ist es eine ganz skandalöse Art, wie sich Europa mit der Welt auseinander setzt. Indem es behauptet, dass man ein vollständiges Dorf verpflanzen und dem europäischen Publikum präsentieren kann.

Christoph Dirnbacher: Kurze Zwischenfrage noch: Wenn Sie verpflanzt sagen. Meinen Sie gefangen und dazu gezwungen ausgestellt zu werden oder waren das wirklich Menschen, die das freiwillig und beruflich gemacht haben?

Werner Schwarz: Das ist eine der faszinierendsten Fragen, die man nur ganz schwer beantworten kann. Im Setting dieser Ausstellung, dieser Propaganda und in der Werbung, in der Inszenierung wird das immer so vermittelt, dass es da ein Dorf gibt, welches dann mehr oder weniger eins zu eins übersiedelt wird. Das Wiener Publikum hat die Möglichkeit ganz authentisch ein afrikanisches Dorf zu besuchen. Man kann da wirklich hingehen. Das war auch etwas Neues in den 1870er- und 1880er Jahren, das man diese Dörfer öffnet. Man kann sich das so vorstellen, als ob man durch ein Dorf mit Hütten und allen anderen möglichen Einrichtungen, die dort betrieben werden, spaziert. Das ist eigentlich einfach die Grundlage, dass man so ein Dorfsetting hat. Warum die Menschen teilnehmen? Woher sie tatsächlich kommen? Das ist etwas, was sehr schwer aufklärbar ist, weil man diese Geschäftsakten dieser Unternehmen nicht mehr auffinden kann und weil man nur Splitter in den Zeitungen findet, wo natürlich auch in Zweifel gezogen wird, dass die Leute wirklich von dort kommen. Natürlich gibt es auch viele Hinweise darauf, dass es Profis sind. Wie diese Anwerbeverfahren gelaufen sind, weiß man nicht genau. Tatsächlich waren das schon Leute, die wahrscheinlich erfahren waren und die es gewohnt waren, diese Erwartungen zu erfüllen. Das gehört eben auch zu dieser Inszenierung. Dann hätte man sie als Darsteller angeworben und es wäre nicht dieser ganze Effekt des Authentischen weg gewesen. Es gibt vom Alten ein schönes Buch Achanté, indem er sich mit der Achantéschau 1896 auseinandersetzt. Da zitiert er eine junge Frau, die dann sagt: „ Wir müssen wilde darstellen. Das ist unsere Funktion. Das ist unsere Aufgabe.“ Man muss sich das vorstellen, als ob offensichtlich an manchen Tagen 3000 Menschen hingehen. Da sind 100 Menschen in diesem Dorf und wir werden aufgesucht und bedrängt. Da gibt es ganz unglaubliche Geschichten über diese Konfrontation zwischen den Menschen in diesen Dörfern und diesem Massenpublikum. Wie sie das ausgehalten und diesem Stress standgehalten haben, ist eines der ganz großen Rätsel. Man weiß von früheren Schaustellungen, dass Leute in Depressionen verfallen sind und dass es Todesfälle gab, die wahrscheinlich mit dieser unerträglichen Situation zu tun hatten. Dann mussten sie sich, wie es beim Altenberg überliefert ist, relativ unbekleidet zeigen, weil es zum Bild des Wilden gehört. Gleichzeitig geht es auch um eine erotische Attraktion und Faszination. Eigentlich ist es ein purer Wahnsinn. Das ganze Setting das sagt ganz gut, wie aus Europa im späten 19. Jahrhundert die Welt gesehen wurde.

Sandra Knopp: Aus welchen Kulturen kamen die Menschen denn? Sie haben erwähnt, dass Menschen aus Afrika kamen. Welche anderen Kulturen wurden vorgestellt?

Werner Schwarz: Die ersten Schauern, die der Hagenbeck bringt, sind die Nubiakaravane. Also auch afrikanisch. Aber dann gibt es zwei Schauen in der Rotunde. Das ist noch einmal ein ganz spezieller Fall. Der Hagenbeck geht in die Rotunde. Also in diesen Zentralbau der Weltausstellung. Ein monumentaler Bau und alleine wenn man sich jetzt vorstellt, dass in diesem monumentalen Bau ein Dorf drinnen ist, da wird der ganze Gegensatz schon auf einen Blick vermittelt. Die technische Moderne, das Wunderwerk der Technik und drinnen diese kleinen Hütten. Er bringt für diese Rotunde dann zweimal hintereinander Schauen sogenannter Singalesen, also Bewohner von Ceylon. Aber asiatische Gruppen sind eher die Seltenheit. Der Schwerpunkt liegt auf jeden Fall auf afrikanischen Gruppen. Das hängt aber auch damit zusammen, dass dieser Prozedur zur Schaustellung nur Menschen ausgesetzt sind, die aus Kolonien stammen. Das Entscheidende an der Darstellung dieser Menschen in Menschenschauen ist, dass jeder nur sich selbst zeigt. Also, dass sie gar nichts Anderes zu zeigen hätten. Die Idee dieser Schauen ist, dass sie eigentlich nur sich selbst zeigen und genau so sind sie wie wir sie sehen.

Christoph Dirnbacher: Dieses Motiv kehrt aber auch in den Freak Shows wieder. Auch die damals als Zwergen benannten Menschen oder die Riesen mussten per Definition gar nichts werden, weil sie schon etwas waren. Nämlich ein Riese oder ein Zwerg oder ein Rumpfmensch. Welche Attraktionen gab es in dieser Richtung im Prater? Wenn man jetzt von den Menschenschauen ein Stück weit weg geht und sich dem Abnormen zuwendet.

Werner Schwarz: Ich glaube das ist nicht ganz der richtige Punkt. Da gibt es eine große Übereinstimmung. Also wirklich nur sich selbst darstellen. Es wird ihnen eigentlich alles andere abgesprochen. Das sie eben eine Individualität besitzen. Im Fall Menschenschauen sind sie nur Repräsentanten ihrer Natürlichkeit, ihrer Wildheit oder ihrer Primitivität. Aber sie sind nichts sonst. Sie sind keine Subjekte. Sie sind reine Objekte, die man bestaunen kann und da gibt es natürlich auch große Prallelen zu Freakschauen oder den Schauen von sogenannten abnormen Menschen. Da gibt es eine lange Tradition im Prater und nicht nur im Prater, muss man dazusagen. Der Prater wurde erst im späten 19. Jahrhundert zu diesem exklusiven Ort für diese Art von Schaustellung.

Lange Zeit  war der Prater gar nicht der bevorzugte Ort von „Schauen“ und von abnormen Menschen. In der Mehlgrube am neuen Markt gibt es ein berühmtes Lokal, dass eigentlich noch lange existierte, bis ins 19. Jahrhundert, wo solche Schauen stattgefunden haben. Sie sind lange Zeit, eigentlich bis in 19. Jahrhundert, sogar eher im innerstädtischen Bereich zu finden gewesen. In Schaustellerlokalen oder in der so genannten Jägerzeile, in der späteren Praterstraße. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde der Prater überhaupt zu dem zentralen Ort für all diese Arten von Schaustellungen. Dann finden wir Bartmenschen oder Haarmenschen die man auch manchmal Löwenmenschen nennt. Also Menschen, die sehr behaart sind. Es gibt zum Beispiel Menschen mit so kleinen Köpfen. Die nennt man Vogelmenschen. Natürlich spielten Zwerge und Riesen immer schon eine ganz große Rolle. Rumpfmenschen, wie den Kobelkoff, die kategoirisiert und bewirbt man auch so und denen sprich man in diesem Setting zur Schaustellung auch so etwas wie Individualität ab. Tatsächlich wissen wir, auch von vielen dieser Menschen, wie dem Kobelkopf, aber genau das Gegenteil, nämlich, dass sie erfolgreiche Unternehmer waren. Also ein Rumpfmensch, der Kinos im Prater betrieben hat und ein sehr wohlhabender Mann geworden ist.

Sandra Knopp: Wer war denn eigentlich das Publikum? Ist man da als Familie hingegangen? Ist das wie heute ein Besuch im Zirkus? Wie hat das damals ausgeschaut?

Werner Schwarz: Über das Publikum weiß man in gewisser Weise recht wenig, wenn man jetzt unsere Anforderungen an Information über ein Publikum anlegen würde. Das heißt: So etwas wie Statistiken, das findet man natürlich nicht. Es gibt ganz viele Beobachtungen, was auch interessant ist, wenn man die Zeitungsberichte über die Menschenschauen oder auch über Freakschauen liest, dann haben diese Zeitungsredakteure immer so ein doppeltes Vergnügen. Einerseits beobachten sie immer die Wilden oder die Freaks. Auf der anderen Seiten beobachten sie immer das Publikum. Das gehört zu einem literarischen Genre dazu. Was machen die Wiener? Das fasziniert die Leute im Aschanti Genre. Wie gehen die Wiener mit den „Wilden“ um? Das amüsiert sie. Das ist ein wichtiger Teil des Faultons. Wenn man die Zahlen ernstnimmt, gibt es keine richtigen Belege dafür, dass diese stimmen. Die kolportierten Zahlen in den Zeitungen, die oft von 30.000 sprechen: Man muss davon ausgehen, dass sehr viele umgehen. Es gibt eigene Tage die für Leute reserviert sind, die wenig Geld haben (Arbeiter). Man kann davon ausgehen, dass der Prater massenhaft besucht worden ist. Wenn es um die Frage der Normalität geht, sind diese Stereotypen über Menschen außerhalb Europas, die zumindest bei Menschenschauen oder bei Freakschauen sehr massenhaft vermittelt worden.

Christoph Dirnbacher: Kommen wir kurz zurück auf die „Wilden“ und die „Wiener“. Sie haben die Frage aufgeworfen: Wie sind die Wiener mit den „Wilden“ umgegangen? Eine Frage, die sich durchaus der näheren Betrachtung lohnt.

Werner Schwarz: Ja! Unbedingt! Das ist eine interessante Frage. Man kann nur sagen, dass das in semiliterarischen Zeugnissen überliefert wurde. Auch die Faultons beschäftigen sich mit dieser Frage.

Es wird von Zudringlichkeiten und Konflikten berichtet. Es ist auch heute noch so mit den Boskolonia.

In erster Linie stellt sich die Frage: Welchen Spielraum hatten die Menschen in diesen Dörfern?

(Die „Wilden“). Wie haben sie den geringen Spielraum gemeistert? Wie sind sie damit umgegangen?

Es gibt Gerichtsfälle, wo Wiener (Wienerinnen) zudringlich geworden sind. Eine Stereotype ist die seidene Haut der Afrikaner. Es gibt immer wieder Berichte, wo sich Wiener (Wienerinnen) nicht zurückhalten konnten, deren Haut zu berühren. Dadurch kam es auch zu Konflikten, die bei Gericht gelandet sind. Aber es gibt auch einen faszinierenden Fall der zeigt, wie die Situation kippen kann.

Bei einer Schau, nicht bei einer Aschantischau, sondern bei einer Biskalenschau, sind die Leute in den Streik getreten, weil ihnen das „Absammeln“ von Geld verboten wurde. Das „Absammeln“ wurde als betteln verboten. Betteln musste man bewilligen. Ein wichtiger Teil ihres Einkommens bestand aus dem „Absammeln“. Als man ihnen dieses „Absammeln“ untersagte, traten sie in den Streik. Da war in der Presse die Hölle los. Das sind „Wilde“ die in den Streik treten! Noch dazu mit einem fortschrittlichen Mittel der Arbeiterbewegung! Da ist plötzlich der ganze Zauber weg. Die Biskalis werden verteufelt. Es entsteht eine unglaubliche Aggression. Die Presse darauf war auch, dass der Zauber der Inszenierung platzt. Das sind keine „Wilden“, denn sie wissen genau Bescheid. Sie kennen die aktuellen Techniken, mit denen man sich trotz einer unterlegenen Position, Gehör verschaffen kann. In der Folge bekommen sie mehr Geld. Der Streik ist erfolgreich.

 Lied: „Schein is so a Ringlgspü“

 Christoph Dirnbacher: Willkommen zurück zu einer Freak Radio Sendung, die sich heute dem Abnormen widmet. Der seltsame Begriff wurde um das 19. Jahrhundert sehr stark geprägt. Heute würde man sagen: „Menschenschauen“ oder „Freak Schauen“ war damals in Mode. Wir beginnen den zweiten Teil mit einem Zitat von Viktor Hugo: „Ich bin ein Ungeheuer sagt ihr. Nein ich bin das Volk. Ich bin eine Ausnahme. Nein ich bin jedermann, die Ausnahme seid ihr. Ihr seid das Wahnbild, ich bin die Wirklichkeit. Ich bin die Menschheit, wie ihre Herren sie zugerichtet haben. Der Mensch ist ein entstellter Krüppel“.

Christoph Dirnbacher: Werner Schwarz. Welche Faszination übte die Andersartigkeit von Menschen, egal ob auf Grund ihrer Herkunft oder eines körperlichen Merkmals auf die Wienerinnen und Wiener aus?

Werner Schwarz: Die Frage ist: Wie wird Andersartigkeit überhaupt als andersartig wahrgenommen? Es muss eine Art des Eingelernten sein. Man wird es kulturell vermittelt bekommen. Was ist anders, was ist normal? Das ist heute nicht anders als vor 100 oder 200 Jahren im Wiener Prater.

Eines ist klar: Bei den Menschenschauen wird Differenz konstruiert! Da wird eine dramatische Differenz zwischen uns und den „Anderen“ konstruiert. Das ist gleich wie bei den abnormen Menschen. Da wird eine extreme Differenz konstruiert. Warum ist das so? Braucht eine Gesellschaft so etwas wie die Vorstellung von „wir“ und die „Anderen“? Ist das ein Moment der Macht oder der Mächtigen, die den Menschen so eine Differenz vermitteln, um dadurch ihre Möglichkeiten auszuschöpfen? Das ist etwas, worüber man sehr intensiv diskutieren kann. Tatsächlich sind diese Schauen eine starke Grenzziehung, die schwer zu erforschen ist. Es ist etwas, das wir aus den Oberflächen der Quellen gut herauslesen können. Man muss davon ausgehen, dass das von den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen nicht immer so gesehen worden ist. Wir wissen immer nur die Repräsentation in den Massenmedien und Zeitungen. Wir kennen eigentlich nur die Perspektiven von Menschen die meistens diesen Eliten angehören. Wie die Leute wirklich damit umgegangen sind, was sie daraus gelesen haben, ob sie überhaupt dieses Spektakel so akzeptiert haben, weiß man eigentlich nicht so genau. Da muss man vorsichtig sein. Sehen das alle so? Es gibt immer wieder kleine Splitter in den Zeitungen, wo man eine Ahnung bekommt, dass es schon andere Verbindungen gab. Dass es auch andere Wahrnehmungen geben konnte, als die die dann veröffentlicht wurden.

Kobelkoff haben wir schon angesprochen. Ein erfolgreicher Unternehmer. Es gibt eine ganz andere Seite seiner Existenz, die den Leuten vielleicht nicht so bekannt war, wie die Tatsache, dass er keine Arme und keine Beine hatte. Das Gleiche ist bei den Aschanti oder anderen Gruppen. Die Komplexität ihrer Biographien hat die Leute an der Oberfläche nicht interessiert. Aber ohne, dass wir das überliefert bekommen haben hat sie das vielleicht doch ein wenig interessiert. Wir kriegen immer nur durch bestimmte Zeugnisse eine Perspektive vermittelt. Dabei müssen wir damit rechnen, dass wir viele Perspektiven nicht überliefert bekommen haben, weil eher die elitären Blickwinkel uns die Dinge überliefert haben.

Christoph Dirnbacher: Das würde bedeuten, wir müssen vorsichtig sein mit den Quellen, die uns zur Verfügung stehen, weil zur damaligen Zeit nur die Elite berichten durfte und damit unter Umständen viele Sichtweisen verloren gegangen sind.

Werner Schwarz: Ja, man kann es generell auf die Geschichte beziehen. Zu den Leben derer, die nicht der Elite angehören, hat man immer einen schweren Zugang. Der häufigste Zugang zu den Menschen, die nicht der Elite angehören, war immer das Gericht (die Gerichtsprotokolle). Immer, wenn es Abweichungen, Übertretungen oder Verbrechen gibt, bekommt man Einblick. Das ist auch bei den Menschenschauen so, dass man durch Vorfälle die gerichtsanhängig etwas von der Realität einer Differenzierung erfährt. Das ist auch bei einem Streik so. Ähnlich ist es auch bei Menschen, die auf Grund von körperlichen Abweichungen ausgestellt worden sind. Es ist schwer, jenseits zu den klassischen Berichten etwas über diese Menschen zu erfahren.

Christoph Dirnbacher: Apropos Menschenschauen. Man könnte sagen: Mit der Entwicklung des Kinos wurde dieses Schauen weniger wichtig oder weniger populär!

Werner Schwarz: Ich würde sagen, dass das Kino mehr Möglichkeiten hat, diese Wünsche oder Sehgewohnheiten (vielleicht muss man mehr von Gewohnheiten als von Wünschen sprechen) zu bedienen. Das Kino vermag die Exotik oder die Welt im Setting von „mir und die Anderen“ zu vermitteln. Das Kino hat ganz andere Möglichkeiten zu wesentlich einfacheren und günstigeren Methoden. Ob das tatsächlich immer ganz eindeutig ist, dass ein Medium etwas anderes sofort ablöst? Ich würde sagen: Da passieren meistens auch größere Veränderungen in der Gesellschaft.

(Nicht das Eine ersetzt das Andere!). Da gibt es Transformationen. Man darf nicht vergessen, dass nach 1918 die Monarchie aufgelöst wurde. Diese Menschenschauen, diese Differenzierungen, muss man auf die Fragen beziehen, die auch im späten 19. Jahrhundert gestellt werden. Differenz, Identität, nationale Identität, all diese Fragen die wir stellen. Fragen von Klasse und überhaupt zum Differenzieren von Menschen. Das ist seit dem späten 19. Jahrhundert eine komplexe Frage. Wenn man einerseits den Kolonialismus hervorhebt, muss man andererseits die Moderne sehr komplex sehen: Demokratiebewegung, Emanzipationsbewegung, Rassismus, Antisemitismus. Wir sind im späten 19. Jahrhundert in einem sehr komplexen, kulturellen und sozialen Feld. Diese Fragen werden auch im Prater mit den „Wilden“ verhandelt. Sie wiederspiegeln auch allgemeine Fragen und sind vielleicht deswegen so attraktiv. Wenn man zu den „Wilden“ geht, kann man diese Fragen auch durchspielen. Wer ist jetzt in der Monarchie? Polen, Juden, Slowenen, was auch immer! Diese Frage ist natürlich sehr evivalent. Insofern haben diese Menschenschauen auch eine Logik im ganzen „Zeitgemenge“.

Christoph Dirnbacher: Apropos „Zeitgemenge“. Es wird bald eine Ausstellung zum Prater im Wien-Museum geben. Wann startet diese? Was wird dabei zu sehen sein?

Werner Schwarz: Sie startet Mitte März. Da wird man einen schönen Rundgang durch 250 Jahre Pratergeschichte zu sehen bekommen. Dem grünen Prater wird etwas gewidmet sein. Der Weltausstellung und den modernen Attraktionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart wird etwas gewidmet sein. Natürlich werden auch die Zerstörung des Praters im 2. Weltkrieg und der Wiederaufbau, sowie das Riesenrad eine große Rolle spielen. Filmische Darstellungen des Praters wird es geben. Man wird sehr viel Information bekommen und sehr viele interessante Dinge sehen. Das Wien-Museum ist sehr reich an Hinterlassenschaften zum Prater.

Christoph Dirnbacher: Dann sagen wir danke für ein ehr interessantes Gespräch. Nähere Informationen zu dieser und anderen Sendungen können sie auf www.freak-radio.at nachlesen und downloaden. Danke an die Technik, danke an Sandra Kopp und danke an Werner Michael Schwarz.

Transkription von Nadine Fischl


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