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Rubrik: Lesen statt Hören
13. November 2007

Grenzen von Wahn und Wirklichkeit

von Gerhard Wagner

Anlässlich des österreichweiten Tagebuchtages am 7.11.2007 und des »Europäischen Jahres der Chancengleichheit für alle« beschäftigt sich diesmal theater@ja.com mit Psychischen Behinderungen. Auf Basis der Tagebuchaufzeichnungen des russischen Balletttänzers und Choreographen Waslaw Nijinski stellt eine neue Produktion Fragen nach der Grenze zwischen psychisch »normaler« und »kranker« Emotionalität.
In dieser Sendung hören Sie Ausschnitte aus dem Stück und einer Live-Diskussion im Anschluss an eine Aufführung, in der es um einige Aspekte geht, wie wir mit Psychischen Behinderungen oder Erkrankungen sensibler umgehen können...

Freak-Signation

Anmoderation: Grenzen von Wahn und Wirklichkeit - Gestaltung und Moderation Gerhard Wagner.
Anlässlich des österreichweiten Tagebuchtages und des "Europäischen Jahres der Chancengleichheit für alle" wurde am 6., 7. und 8. November 2007 vom »theater-ja.com« ein Stück auf Basis von Tagebuchaufzeichnungen des russischen Balletttänzers Waslaw Nijinski aufgeführt. In der heutigen Sendung bringen wir Ausschnitte aus diesem Stück, das im Pool 7 des grünen Kreises am Rudolfsplatz im ersten Wiener Gemeindebezirk stattgefunden hat.
Es handelt von fortschreitender psychischer Behinderung und von der Ohnmacht, damit umzugehen - und von heute unmenschlich erscheinenden Maßnahmen der Psychiatrie.

Freak-Radio hat am 8. November, gemeinsam mit »theater-ja.com«, im Anschluss an das Stück eine Podiumsdiskussion durchgeführt. Doch hören Sie zunächst Ausschnitte aus dem Theaterstück. Es spielen mit: Eva Jankovsky, die dieses Stück geschrieben und die Aufführungen organisiert hat, Thomas Gross als Nijinski und Clemens Aap Lindenberg als Diaghilew.

Musik

Waslaw Nijinski: Meine Frau verstand mich nicht, als ich ihr sagte, jeder müsse das tun, was er fühlt. Sie denkt, und deshalb ist sie ohne Gefühle. Mich muss man fühlen und über das Gefühl verstehen. Ich bin ein Mensch, der wie Christus, göttliche Weisungen befolgt. Ich weiß, wenn alle zu der Ansicht gelangen, ich sei ein harmloser Geisteskranker, dann wird niemand mehr Angst vor mir haben. ich bin ein Geisteskranker, der die Menschen liebt. Meine Geisteskrankheit ist die Menschenliebe.

(Alle lesen Ausschnitte aus den Tagebüchern, gleichzeitig, manches ist hervorgehoben, sodass alle es hören können, anderes verschwindet im Stimmenwirrwarr.)

Waslaw Nijinski: Gott will, dass ich gewinne.

Romola de Pulsky: Ist das etwa nicht verrückt?

Diaghilew: Genial verrückt. Waslaw hatte immer außergewöhnliche Ideen. Er war seiner Zeit um Jahrzehnte voraus. Denken Sie nur an "Sacre", in dem er eine heidnische Feier inszenierte. Unglaublich. Aber die alten Männer, die, im Kreis sitzend, dem Todestanz des jungen Mädchens, das dem Gott des Frühlings geopfert wird, zuschauen, erregte die Gemüter nicht weniger als "Faune". Er studierte tagelang die Reliefe der alten Ägypter, Sportler, Tiere, alles verarbeitete er in seinen Balletten. Er hat sogar mich verarbeitet.

Romola de Pulsky: Naja, Sie sind ja auch nicht ganz normal.

Diaghilew: Sie verleugnen sich selbst, meine Gute. Ich erinnere Sie nur an Frau de Putti und Frederica Dezentje! Er zeichnet unentwegt Kreise, das Arbeitszimmer ist übersät mit Entwürfen!? Er ist gereizt und überaktiv. Mir scheint, er ist einfach frustriert, künstlerisch nicht ausgelastet, Ihre Ehe konnte ihn eben nicht befriedigen. Aber ich sehe keine Geisteskrankheit.

Nijinski: Normal genial wahnsinnig: Mein Arzt sagt dazu folgendes: Diagnose: Patient leidet unter einer vermutlich starken affektiven Störung, erster Nervenzusammenbruch 1914, Myokardschwäche ausgeschlossen, wahrscheinlich schizophren, Form unbekannt, Heilung ungewiss, auf jeden Fall unklares, grenzwertiges Krankheitsbild. So gesehen käme Patient für Insulin-Schock-Therapie in Frage. Einholung einer Einverständniserklärung der Ehefrau, da Mortalitätsrisiko 10-20%. Voraussichtliche Dauer der Therapie: 180 Tage.

Diaghilew: Ich hätte dich ..., Watz-za Watz-za Waa wawawa

Nijinski: Ich hatte übernatürliche Wahrnehmungen, mein Bewusstsein hatte sich verändert, ich begann den Kosmos zu fühlen, das GANZE in mir wieder zu erkennen. Ich begriff plötzlich den Kreis! Der Kreis als die perfekte Linie, die perfekte Bewegung und Höchstes. Ich fühlte seine spiritistische Kraft nunmehr in seiner Gänze. Ich habe dieses Buch geschrieben, um meine Erfahrungen mit den Menschen zu teilen, aber man verstand mich nicht. Christus hatte man auch nicht verstanden.
Mir ist klar, dass dies nicht für alle nachvollziehbar ist, aber es ist die Wahrheit, es klingt vielleicht verrückt für sie, aber es ist so, ich kann es nicht ändern. Vielleicht ist es für Sie nicht wichtig und ich sollte lieber schweigen, aber es muss raus, DAS ist das Verrückte, ich kann es nicht steuern, es bahnt sich selbst den Weg.
Man muss stark sein die Einsamkeit zu ertragen, ich fürchte, dass ich zu schwach bin, Leid erkennen und es verkraften wirft mich mitunter in eine düstere Welt.

Verzeihung! Vergessen Sie´s!

Diaghilew: Sie dachten die Abgeschiedenheit in den Schweizer Alpen würde ihn beruhigen?

Romola: Ja, stattdessen meldete er sich beim Skeletonrennen an und brauste tagtäglich in höllischer Geschwindigkeit die Hänge hinab. Er war wie besessen.

Diaghlew: Einmal verursachte er sogar einen Unfall mit einem Pferdefuhrwerk, nicht wahr. Naja, heute würde man sagen: No risk no fun!
Sie dürfen das nicht so eng sehen.

Romola: Zum Glück hat er niemanden verletzt.

Diaghilew: Na eben.

Romola: Aber es hätte passieren können. Seine Stimmungsschwankungen wurden so unvorhersehbar, undurchsichtig, dass ich anfing mir Sorgen zu machen. Er schrieb und schrieb wie wahnsinnig.

Nijinski: (Schrei) Ich lebe was ich fühle, ich sage was Gott mir sagt!

Romola: Das ist ja nicht normal. Du hast dich so verändert. Wo ist deine Sanftmut hin. Ich erkenne dich nicht wieder.

Nijinski: Du denkst zu viel. Ich sage dir immer, du isst zu viel Fleisch. Du solltest stattdessen Gemüse essen.

Romola: Was für dich gut ist, muss nicht auch für mich gut sein.

Nijinski: Das Fleisch ist der Tod.
Du vertraust mir nicht mehr. Du vertraust dem Doktor. Du glaubst, ich werde geisteskrank.

Romola: Du benimmst dich in letzter Zeit so nervös. Du arbeitest zuviel.

Nijinski: Ich habe mich verändert weil Gott es so wollte. Ich bin Künstler, wir Russen sind so, vor allem wir Künstler. Ich entwickle mich eben. Ich bin Gott, ich bin sein Blut, ich bin Christus. Ich will, dass du dich auch entwickelst und nicht von deiner Schwester beeinflussen lässt. Ich habe dich mit Absicht geärgert, weil ich dich liebe, ich will dein Glück.

Romola: Du bist dreißig Jahre alt und führst dich auf wie dein verrückter Bruder.

Nijinski: Ja... Ich bin ein Genie! Ich habe die Rolle des Irren studiert und alle an der Nase herumgeführt, sogar dich und den Doktor.

Romola: Was sagst du da? Wir haben uns Sorgen gemacht...dabei war alles nur gespielt?

Nijinski: Ja, ich habe den Idioten gespielt und ihr habt es geglaubt. Ich will, dass Dr. Greiber nicht mehr kommt.

Romola: Aber du brauchst ihn.

Nijinski: Bitte, Femmka, ich muss wieder weinen. Ich bin nicht austauschbar!

Romola: Aber was redest du denn da?

Nijinski: (schreit) Hör auf zu lügen!

Romola: Bitte, Watza, hör auf damit, ich habe Angst.

Nijinski: "Ich habe Christus ohne Bart und mit langem Haar gemalt. Ich sehe ihm ähnlich, nur dass sein Blick ruhig ist, meiner dagegen ständig in Bewegung. Ich bin ein Mensch in ständiger Bewegung, kein sitzender. Ich habe andere Gewohnheiten als Christus. Er saß gern. Ich tanze gern.
Gestern war ich bei meiner kleinen Kyra, die wegen ihrer Bronchitis kaum Luft bekam. Ich weiß nicht, warum man Kyra eine Maschine zum Einatmen von Dämpfen mit Medikamenten gegeben hat. Ich will nicht, dass die Menschen Medikamente verwenden. Medikamente sind etwas erfundenes. Ich kennen Leute, die aus Gewohnheit Medikamente einnehmen. Die Leute glauben, dass Medikamente eine notwendige Sache seien. Ich finde Medikamente sind nur als Hilfsmittel unbedingt notwendig, aber in ihnen liegt kein Sinn, denn sie können keine Gesundheit geben. Tolstoi mochte keine Medikamente. Ich mag Medikamente, weil sie eine notwendige Sache sind. Ich habe gesagt, dass Medikamente unnötig sind, weil in ihnen kein Sinn liegt. Ich habe die Wahrheit gesagt, weil es so ist. Wenn sie mir nicht glauben wollen, lassen sie es bleiben. Ich vertraue Gott, deshalb schreibe ich alles was er mir sagt."

Stimmen: (durcheinander): Neurasthenie, Katatonie, Manie, Depression, Schizophrenie, Paranoia, Dementia, ...

Stimme 1: legitime Namen, aber keine Erklärung.

Stimme 2: Was diese Erkrankungen hervorruft, ist bis zum heutigen Tage unbekannt, ...

Stimme 1: die Forschung auf dem Gebiet der ist Psychiatrie relativ unterentwickelt.

Stimme 2: Wir untersuchen sie seit 40 Jahren, kennen ihre Symptome, können sie aber nicht heilen.
Alle (im Chor): Ja, mehr können wir leider nicht tun.

Nijinski: Man will mich töten! Romola, lass nicht zu, dass Sie mich töten.

Romola: Dr. Greiber!! es ist dringend, Waslaw braucht wieder eine Morphium-Spritze!

Nijinski: Du glaubst den anderen mehr als mir. Ich war sanftmütig, weil ich mit größter Anstrengung meine Wut unterdrückte. Das kostet sehr viel Kraft. Ich habe sehr viel Kraft, aber Gott sagt mir, ich soll so sein, wie ich fühle und ich fühle, dass du mir nicht mehr vertraust. Ich bin wie ich immer war, aber ich bin dein Mann, Femmka, das darfst du nicht vergessen.

Romola: Du bist krank, Waslaw.

Musik

Moderation: Im Anschluss an das Stück fand eine Podiumsdiskussion mit Kurt Neuhold, dem Gastgeber und Leiter für Kunst im grünen Kreis, mit Hans-Georg Schindler vom Bundessozialamt, mit Ernst Lichtenberger vom Verein "Crazy Industries" und mit Angelika Klug vom Verein HPE statt. Im Stück sagt Nijinskis Ehefrau an einer Stelle sie dachte fest, dass ihr Mann geheilt werden könne. Meine erste Frage war daher: Haben Sie auch auf Heilung gehofft?

Angelika Klug: Naja, ich kannte seine Geschichte schon und deshalb habe ich dass dann auch nicht gewagt. Grundsätzlich hofft man immer, vor allem auch als Angehörige, dass jemand, der so krank ist, den man sehr liebt, dass der doch wieder gesund werden kann. Beziehungsweise, dass er ein Leben mit einer gewissen Lebensqualität führen kann. Zumindest so symptomfrei, dass er wieder Freude am Leben empfinden kann und dass er ein Leben führen kann, das ihn ein bisschen aus der Einsamkeit hinaus bringt.

Diese Hoffnung, die ist immer da.

Freak-Moderator: Eine andere Frage an Sie, Kurt Neuhold, Leiter für Kunst im grünen Kreis: An einer Stelle sagt Nijinski "Ich habe den Wahnsinn nur gespielt" und Diaghilew sagt an einer anderen Stelle "Er verstand die Spielregeln nicht". Wie ist das mit dem Spiel, mit dem Mitspielen? Spielt das eine Rolle, hat das etwas mit dem »Ver-Rücktsein« zu tun?

Kurt Neuhold: Ich muss vielleicht vorausschicken, dass ich meinen Erfahrungshintergrund in der Arbeit in Therapiestationen mit suchtkranken Menschen gewonnen habe:

Bei Suchtkranken gibt es sehr oft auch als zusätzliches Problem ein psychisches Problem, das entweder durch den Konsum von irgendwelchen Suchtmitteln
ausgelöst wurde - oder wenn schon von vornherein durch die Persönlichkeitsentwicklung noch zusätzlich eine affektive Störung vorliegt. Ein weiterer Zugang, den ich auch persönlich zu dieser Frage habe, ist, dass ich selber bildender Künstler bin. Ich kann also dieses Dilemma zwischen Kunst,
Grenzüberschreitung und Wahnsinn insofern nachvollziehen, als man, wenn man sich darauf ernsthaft einlässt, in innere Tiefen schaut, mit Sachen und
Problemen konfrontiert wird und versucht, diese ästhetisch in den Griff zu bekommen. Wobei einem manchmal angst und bange wird...

Gleichzeitig ist es so, weil jetzt die Strukturen eine Rolle spielen: Wenn man die Fähigkeit vielleicht sogar über formale Ausdrucksmittel seiner inneren Gedanken hat, um sein künstlerisches Schaffen umzusetzen, vielleicht hat man dann eine kleine Hilfestellung, dass man nicht abstürzt. Die Frage ist, ob man einen so beeindruckenden oder weltberühmten einzigartigen Tänzer mit normalen Erfahrungen aus einer Therapiestation beurteilen kann. Auf alle Fälle ist zu sagen, dass er mit seiner eigenen Situation gelitten hat, dass ihm seine eigenen Grenzen verloren gegangen sein dürften und dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr fähig war, es künstlerisch umzusetzen.

In der Arbeit auf der Therapiestation ist es oft so, dass wir durch die äußeren Strukturen versuchen, den Menschen künstlerische Medien und künstlerische Ausdruckstechniken anzubieten, um vielleicht sogar wieder so etwas wie Struktur zu entwickeln und über diese künstlerische Mittel wieder einen Zugang zu sich selber zu entdecken: Denn eine Sucht oder der Konsum von einem Rauschmittel hat leider meist die Auswirkung, dass genau durch dieses Gift die Möglichkeiten des Ausdrucks verringert werden - und die Leute sind in einem Dilemma: Wenn sie in der Suchtphase sind, können sie nicht wirklich kreativ sein - und das ist mein erster Zugang zu dem Thema.

Freak-Moderator: Ich würde gerne beim Thema Kunst bleiben. Ernst Lichtenberger, Sie sind bei Crazy Industries und Sie haben auch ein bisschen etwas mit Kunst und psychischer Behinderung zu tun. Vielleicht erzählen Sie einmal Ihren Zugang?

Ernst Lichtenberger: Für uns war das eben so: Es hat sich, nachdem wir über zwölf Jahre Selbsthilfe gemacht haben (mit Urlaubsprojekten, Gesundheitsstammtisch...) die Frage ergeben, oder es ist die Frage auf uns zugekommen, dass es Menschen mit psychischen Behinderungen gibt, die etwas Kreatives tun wollen, vor allem aus dem Bereich der Psychosen. So ist es gekommen, dass Christian Horvath, der Gründer des Vereins »Crazy Industries«, im Jahr 2000 das Atelier "Sonnensegel" gegründet hat, um Menschen mit psychischen Behinderungen einen kreativen Freiraum zu geben, um im öffentlichen Raum, vor allem als Maler, ihre Kunstwerke zu produzieren. Das war auch der Anspruch dieser Leute: durch die Kreativität etwas zur Krankheitsbewältigung beizutragen.

Es hat sich aber dann so ergeben, das ist vielleicht parallel zu dem Stück, dass die Leute auch ihre akuten Sachen ausgelebt haben, ausagiert haben und dass für uns dann neben den künstlerischen Aspekten auch die Erkrankung sehr zum Vorschein gekommen ist. Da wir natürlich keine Therapeuten, Ärzte oder Psychologen sind, war das natürlich auch für uns sehr schwer handhabbar.

Aber im Großen und Ganzen kann man sagen, dass dieses Atelier Sonnensegel, wie es wir verstanden haben, für uns ein sehr großer Erfolg war. Wir konnten 20 Ausstellungen in Galerien machen, wir konnten dort Bilder am freien Kunstmarkt verkaufen, also keine Maltherapie, wie sie in der stationären Versorgung angeboten wird. Und ich glaube auch, dass das den Künstlern sehr geholfen hat.

Freak-Moderator: Herr Hans-Georg Schindler vom Bundessozialamt, Sie haben ein bisschen einen anderen Zugang, vor allem auch in beruflicher Hinsicht. Ihnen geht es darum, dass Menschen, die auch psychische Behinderungen oder Erkrankungen haben, entweder im Arbeitsmarkt bleiben können oder vielleicht auch wieder einsteigen können. Was tun Sie vom Bundessozialamt?

Hans-Georg Schindler: Also nicht nur Einsteigen, Verbleiben können, sondern auch Arbeitsplätze schaffen. Wir vom Bundessozialamt haben einen breiten Leistungskatalog, wo wir auch psychisch behinderten Menschen unter die Arme greifen können: Finanziell durch Einstiegshilfen oder Rehabilitationsmaßnahmen. In letzter Zeit war es besonders die Beschäftigungsoffensive der letzten Bundesregierung, die aber jetzt fortgesetzt wird, wo wir nicht mehr schauen, ob jemand eine Begünstigteneigenschaft hat, sondern es reicht, wenn jemand feststellbar ist, also eine Erkrankung hat, aber da kann man im Rahmen von Projekten Betroffenen sehr gut helfen.

Freak-Moderator: Das heißt, man verlangt jetzt nicht mehr den Ausweis, sondern Sie sind jetzt großzügiger?

Hans-Georg Schindler: Es gibt die Glaubhaftmachung, das reicht in vielen Bereichen.

Freak-Moderator: Welche Projekte machen Sie da?

Hans-Georg Schindler: Wir haben ein Projekt mit der HPE in Wien, wo Angehörige gefördert werden, die sich sehr kümmern um Menschen mit psychischer Behinderung. Wir haben dann ein Projekt mit pro mente Wien, das ist ähnlich, wo Mentoring angeboten wird, auch Arbeit mit Selbsthilfegruppen und Peer-Counseling.

Freak-Moderator: Was ist das: Peer-Counseling?

Hans-Georg Schindler: Betroffene beraten Betroffene, also das ist, glaube ich, in den letzten zehn, fünfzehn Jahren immer stärker im Kommen. Das fördert das Bundessozialamt besonders. Eben durch den Verein »pro mente«. Wir haben auch mit Sonnensegel gearbeitet, wir kennen alle den Herrn Christian Horvath.

Freak-Moderator: Den Gründer vom Sonnensegel.

Hans-Georg Schindler: Wir waren auch im Sonnensegel, wir kennen auch die ausstellenden Künstler, wir sind beeindruckt! Wir haben heuer auch im Rahmen eines kleinen Filmfestivals eine Ausstellung gehabt und wir lernen halt immer noch. Das Bundessozialamt sieht sich als Drehscheibe für Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen und um Drehscheibe sein zu können muss man sich eben immer auch fortbilden und weiterbilden. Wir haben ja hier auch Projekte mit anderen.

Freak-Moderator: Herr Schindler hat unter anderem gerade von Angehörigen gesprochen. Jetzt ist die Frage - und ich denke, das ist ja auch im Stück ein bisschen herausgekommen - wenn ich mit Menschen mit psychischen Behinderungen, Menschen mit psychischen Erkrankungen zu tun habe, wie lerne ich denn, damit umzugehen? Das ist sicher schwierig und, Frau Klug, Sie haben mir einmal erzählt, dass es für Sie besonders schwierig war.

Angelika Klug: Ja, es ist ein ganz langer Lernprozess. Es beginnt damit, dass man einmal verarbeiten muss: "Oje, da ist jemand, den ich sehr liebe und der ist plötzlich krank, der hat eine Erkrankung, mit der ich nie gerechnet hätte." Alles andere wäre mir in den Sinn gekommen, nur nicht, dass ich einmal ein psychisch krankes Kind haben werde. Dann dauert es, bis der Kranke damit umgehen kann, bis man selbst damit umgehen kann. Das ist ein ganz, ganz langer Weg und man macht auch sehr viele Fehler im Umgang mit dem Kranken.

Am Anfang denkt man: Das muss doch schneller gehen und wenn er die Tabletten nimmt und wenn er dies oder das macht, dann wird er doch bald wieder gesund. Und irgendwann versteht man, dass man es eigentlich gar nicht forcieren kann! Man kann nur dabei sein, man kann wirklich beistehen, begleiten, ihm zeigen, dass man ihn mag. Ihm Wertschätzung entgegen bringen, versuchen, dass er nicht zu viel Stress ausgesetzt ist und ihn so diesen Weg begleiten, dass er weiß, da gibt es das Sicherheitsnetz der Angehörigen, die sind immer da und was immer ich mache, da kann ich mich auch wieder zurückziehen.

Freak-Moderator: Ich hätte noch eine andere Frage: Wie merkt man eigentlich was - verwenden wir jetzt diese banalen Begriffe - normal, abnormal, verrückt oder wahnsinnig ist, krank ist oder gesund ist? Woran haben Sie es denn gemerkt?

Angelika Klug: Das ist sehr unterschiedlich und oft ist es auch sehr schwer zu merken - und ich bin sicher, wir haben es nicht gleich, als die Krankheit ausgebrochen ist, bemerkt. Das ist so ein schleichender, langsamer Weg und irgendwann wird es aber so offensichtlich: Was er sagt, das kann nicht stimmen; was er tut, das ist nicht nachvollziehbar. Seine Sichtweise ist etwas ver-rückt, er macht es etwas anders. Das sind so oft nur Kleinigkeiten, die sich summieren und in seinem Fall ist er dann so auffällig geworden, da war es dann klar und dann konnten wir ihn zum Glück überreden, zu einem Arzt zu fahren. Da wurde er dann sofort in das Krankenhaus eingewiesen.

Freak-Moderator: Eine letzte Frage habe ich noch an Sie: Grenzen. Grenzen sind wichtig. Grenzen sind, wie ich gehört habe, auch bei psychisch erkrankten Menschen oder bei psychisch behinderten Menschen wichtig. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht und wie ist es Ihnen dabei ergangen?

Angelika Klug: Das Grenzziehen, das gehört zu den wichtigsten Verhaltensweisen im Umgang mit Erkrankten, weil der Erkrankte sehr oft - da spreche ich wiederum eher von der Schizophrenie - gar nicht weiß, wie weit er gehen kann. Und wenn er dann nicht jemanden hat, der Stopp sagt: Weiter geht nicht, weiter darfst du nicht, da schädigst du dich! Das schadet! Sonst wird er immer weitergehen und immer weiter und sich immer mehr schaden. Deshalb ist es sehr gut, wenn man sehr klar ist - und diese Grenzziehung soll wertschätzend und liebevoll sein, was man nicht immer zusammenbringt.

Es gibt Situationen, in denen man dann auch furchtbar zornig wird - und dann muss man sich eben nachher wieder entschuldigen, aber Grenzen sind ganz, ganz wichtig. Und hilfreich für den anderen, weil es sein Spiegel ist. Dann lernt er: So weit kann ich gehen, aber weiter soll ich nicht mehr gehen.

Freak-Moderator: Kurt Neuhold, Sie haben ja mit Menschen zu tun, die eine Sucht haben - und Sie sind künstlerisch mit diesen Leuten tätig. Welche Erfahrungen haben Sie denn mit Grenzen gemacht?

Kurt Neuhold: Grenzen sind einerseits sehr wichtig in den Therapiestationen, und das sind meist stationäre Einrichtungen. Denn die Menschen haben durch die Erkrankung oder durch die spezielle Situation, in der sie sind, wenn sie mit einem Sucht- oder Abhängigkeitsproblem kämpfen, leider oft ihre Strukturen und ihre fixen Haltemöglichkeiten an sich selbst und am Leben verloren. Es ist leider notwendig, oft von außen vorgegebene Strukturen Hilfestellungen aufzubauen, damit dieser innere Halt wieder gefunden wird.

Ich war anfänglich sehr überrascht, weil ich von der Kunst und den freien Projekten gekommen bin und habe geglaubt, dass man das mit sehr viel Freiheit und einem sehr spontanen und offenen Zugang regeln kann. Je länger ich jetzt in diesem Bereich arbeite, desto klarer wird mir, dass ich auch bei den Kunstprojekten, die ich mit befreundeten Künstlern oder kooperierenden Künstlern durchführe, sehr klare Grenzvorgaben mache und auch sehr klar Themenvorgaben, weil innerhalb dieser klaren Vorgaben die Möglichkeiten da sind, alles in einem überschaubaren Bereich auszutesten. Trotzdem ist ein Rahmen da, der auch Halt gibt und der so etwas wie Beziehungsmöglichkeit über diese Rahmenbedingungen ermöglicht. Diese Beziehungsmöglichkeit ist manchmal sehr konfliktreich und wird ständig ausgetestet. Aber damit muss man umgehen. Das ist dann gleichzeitig oft ein sehr produktiver Schritt in der Arbeit.

Freak-Moderator: Wir haben ja vorhin vom Spiel gesprochen, ich habe das zitiert. Sie haben einmal gesagt "Etwas Wichtiges ist, dieses Spiel nicht mitzuspielen". Was haben Sie denn damit gemeint?

Kurt Neuhold: Das gibt es zum Beispiel bei Workshops, wo spezielle Projekte vorgegeben sind, wo etwa ein Animationsfilm realisiert werden soll oder wo ein länger dauernder Skulpturenworkshop stattfindet: Indem Grenzen vorgegeben sind und nachdem meist zu Beginn ein sehr großer Enthusiasmus da ist, dass sich alle daran beteiligen können, gibt es dann sehr bald den Punkt, dass das mit Ausdauer, mit Mühe, mit der Entwicklung einer Form, einer Struktur zu tun hat und wo dann das Spiel beginnt: "Geh', mach' du das! Ich hab' keine Zeit! Mich freut's nicht!"

Auf dieser Ebene muss man dann schauen, dass man die Leute wieder motiviert und dass sie erkennen, wie man aus diesem Spiel erstens einmal aussteigt, wieder einmal Grenzen zeigt und dass man über diese Grenzen auch ermöglicht, etwas weiter zu entwickeln. Also sein Produkt fertig stellt - was wieder für die Arbeitsfähigkeit etwas sehr Wichtiges ist. Weil Leute, die nach einer längeren Phase, in der sie nicht in einem standardisierten Leben oder Arbeitsleben involviert waren, dann über diese Kunstprojekte neben dem therapeutischen Programm auch lernen, wieder langfristig zu arbeiten und zu planen. All das sind Voraussetzungen, die am Arbeitsmarkt sehr wichtig sind. Das ist dann sogar eine Möglichkeit, es lustvoll zu erlernen oder auszuprobieren, ob es geht.

Freak-Moderator: Wir haben davon gesprochen, wie man sich fangen kann, wie auch Kunst dabei helfen kann. Ich möchte jetzt aber gerne wissen, wie es zum Gegenteil kommt. Wie kommt es dazu, wie ist das so, wie erleben das die verschiedenen Leute bei Crazy Industries? Sie haben es ja schon vorhin besprochen, da gab es in der Beginnzeit sehr, sehr viele Selbsthilfegruppen, bei denen viele miteinander gesprochen haben. Wie ist denn das, wenn man sich ausklinkt, wie wir das auch gerade in diesem Stück gesehen haben? Was empfinden die Leute, wie erzählen sie, was sie empfunden haben?

Ernst Lichtenberger: Bei Psychosen ist es meistens so, dass die Leute schon mit 17 bis 20 Jahren erkranken. Das Problem ist dann, dass sie ihre Schulausbildung nicht fertig machen können, keine Arbeitsausbildung machen können und sich zurückziehen. Dann beginnen, wie es die Frau Klug schon erzählt hat, eben die Probleme in der Familie: Bis die Familie eben merkt, dass der Betreffende nicht so funktioniert, wie man sich das vorstellt. Es ist auch schwer, darüber zu reden.

Ich kenne sehr wenige, die wirklich darüber reden können, weil man ja bei Psychosen von Gefühls- und Denkstörungen überschwemmt wird und es sehr schwer nachvollziehbar ist, was da jetzt genau passiert ist. Aber von den Gefühlen her wissen es die meisten Leute sehr genau, dass irgendetwas passiert ist, das anders gewesen ist.

Nur, bis man eben merkt, was sich bei der Umwelt oder im sozialen Umfeld geändert hat, das kann oft sehr lange dauern. Ich persönlich habe das, glaube ich, jahrelang nicht mitbekommen, wie meine Eltern oder Familie oder Freunde bei mir vielleicht irgendwie diese Veränderung bemerkt haben, die ich selber gar nicht so wahrgenommen habe. Ich kenne auch Leute, die Psychosen gehabt haben, die das sogar als angenehm, gar nicht krankhaft, empfunden haben:

Manche haben sich gesünder gefühlt als je zuvor, aber für viele war es äußerst unangenehm und sie haben darunter sehr gelitten. Der individuelle Zugang ist einfach bei jedem immer ganz anders.

Freak-Moderator: Vielleicht sollte man das an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen: Behinderungen oder auch psychische Erkrankungen sind immer etwas sehr Individuelles. Sie können sich bei derselben Diagnose auch ganz unterschiedlich entfalten, sie spielen natürlich mit der Lebensgeschichte zusammen und jeder hat so wirklich seine eigene individuelle Behinderung. Meine Frage jetzt: Wie sind Sie denn bei »Crazy Industries« damit umgegangen? Wie sind Sie an psychische Behinderung, an psychische Erkrankungen herangegangen?

Ernst Lichtenberger: Vielleicht auch aus meiner eigenen Geschichte heraus: Ich hatte das Problem, dass ich nicht reden konnte. Durch meine Erkrankung konnte ich über Jahre hinweg nicht kommunizieren. Ich habe vor allem auch bei Crazy Industries gelernt, natürlich auch in Therapie, wieder zu kommunizieren - und das war das Wichtigste für uns: Eben dass die Leute wieder kommunizieren.

Die meisten Leute, die wir damals kennengelernt haben, konnten eben nichts von sich hergeben - vielleicht so wie ich, aber vielleicht auch etwas anders. Es war immer alles in sich selbst gefangen - und es war für uns immer das Wichtigste -und das war vielleicht auch ein Grund, warum die Leute so waren.

Aber andererseits [gab es] auch wieder diese Veränderungen und das Gegenteil davon, diese Stimmungsschwankungen oder diese Wutausbrüche oder diese sozialen Auffälligkeiten haben auch viele, die nichts von sich hergeben konnten. Da die meisten unserer Gruppe damals selber an Psychosen gelitten haben, hat uns das eben interessiert, wie andere in der Psychose gesehen haben oder wie es anderen dann gegangen ist. Das war auch unser Zugang, um Leute vielleicht mit unserer eigenen Erfahrung etwas zu beraten: ihnen auch zu helfen, sie zu begleiten. Das haben wir eben über 15 Jahre lang gemacht und sind damit auch an unsere Grenzen gestoßen, weil wir als Nicht-Therapeuten eben auch Ärzte und Therapeuten hinzuziehen müssen oder die Leute dorthin schicken müssen.

Aber grundsätzlich gesagt, natürlich ist das krankhaft, übersteigert - Wahnvorstellungen oder Halluzinationen... das ist schon klar. Aber es hat eben jeder ein anderes Gefühl dabei gehabt und Gefühle sind, glaube ich, in dieser Erkrankung sehr wichtig.

Freak-Moderator: Ich habe jetzt vor, nicht nur am Podium Fragen zu stellen, sondern auch Ihnen die Möglichkeit dazu zu geben.

Erste Publikumsfrage: Ich möchte mein Kompliment sagen, weil es so super war, was der Herr gesagt hat.

Freak-Moderator: Gibt es sonst irgendwelche Stellungnahmen, Fragen?

Zweite Publikumsfrage: Mich würde noch genauer interessieren, was jetzt Crazy Industries - vielleicht habe ich es überhört, weil ich erst nachher dazugekommen bin - genau macht, was die Arbeit ist, außer dieser Beratung? Crazy Industries klingt so nach Produktion.

Ernst Lichtenberger: Crazy Industries wurde 1989 als Selbsthilfeprojekt gegründet. Das war einer der Pioniere der psychiatrischen Selbsthilfe in Österreich. Unser Bestreben war: Wir haben in einer Nachbetreuungsstation nach unserem stationären Aufenthalt dort gemerkt und aus Gesprächen herausgehört, dass die Leute mit dem Ganzen irgendwie nicht so ganz einverstanden waren.

Christian Horvath hat sich gedacht, dass man die Leute auch herausführen kann und dass die Leute eben auch einen gewissen Anspruch an Normalität haben müssen. Wenn man von den Leuten verlangt, sie sollen wieder gesund werden: Wie sollen sie denn gesund werden, wenn sie immer nur die Normalität an sich - allein über den Begriff Normalität könnte man schon stundenlang diskutieren, was das ist ...

Freak-Moderator: Diskutieren wir einmal: Was ist aus Ihrer Sicht Normalität?

Ernst Lichtenberger: Wenn die Familie will, dass der Betreffende wieder gesund oder normal oder so wird, dann muss er auch irgendwie normal behandelt werden von der Gesellschaft. Das ist aber aufgrund seiner Erkrankung völlig unmöglich, weil die meisten Leute, oder die Gesellschaft wenig oder nichts mit den Leuten zu tun haben will. Vor allem, wenn es ihnen nicht gut geht.

Freak-Moderator: Stichwort Psychiatrie: Wir haben in diesem Stück ja Anfang des 20. Jahrhunderts einige Methoden gehört, Morphium und Insulin und ähnliches, was ja ziemlich »hardcore« ist. Die Psychiatrie hat sich verändert, vor allem aber hat sich das Umfeld verändert, es gibt auch andere Dinge als Psychiatrie, was ja Crazy Industries, denke ich, auch bewiesen hat. Crazy Industries hat sich ja auch sehr mit Psychiatrie auseinandergesetzt. Wie ist denn Ihr Verhältnis Psychiatrie - andere Möglichkeiten? Oder vielleicht, was gibt es heute in Ergänzung dazu?

Ernst Lichtenberger: Was wir da dann eben auch versucht haben, dieser Normalitätsanspruch ist, dass jeder Mensch Urlaub macht, irgendwann einmal. Da das völlig normal ist, haben wir eben auch versucht, die Leute zu animieren, das zu machen, was sie sonst nie machen. Oder es hat Leute gegeben, die noch nie in ihrem Leben Urlaub gemacht haben!

Statt irgendwelcher Therapien wirklich irgendetwas machen: Dass die Leute das alleine machen, das wäre nicht möglich gewesen. Also sind sie mit unserer Unterstützung damals irgendwohin gefahren undhaben eigentlich das getan, was der »normale« Mensch auch macht. Das war vielleicht der erste Ansatz dazu.

Eigentlich haben wir auch gemerkt, die Leute damals hatten sehr viel Freizeit: Und was sollen sie mit ihrer Freizeit tun? Es war ihnen nicht möglich, arbeiten zu gehen oder die Schule abzuschließen oder sonst irgendetwas "Vernünftiges" zu tun, um vielleicht eine gewisse Lebensqualität zu erreichen.

Freak-Moderator: Der Begriff »Normalität« ist gefallen, ich möchte dem auch den Begriff »Wahrheit« gegenüberstellen. Wir haben in einem unserer Vorgespräche auch von einem Spiegel gesprochen, was das Verhältnis der Angehörigen zu einem psychisch erkrankten Menschen betrifft. Da spielt ja auch das hinein, was wir vorhin schon gesagt haben, mitspielen, sich ausgrenzen. Das hat ja alles damit zu tun. Wie ist das für Sie gewesen, beziehungsweise was macht Ihr Verein? Darüber sollten wir vielleicht auch noch ein bisschen etwas sagen, weil wir Ihren Verein noch gar nicht vorgestellt haben.

Angelika Klug: HPE setzt sich für die Interessen der Angehörigen der psychisch Erkrankten ein. HPE möchte auf die Probleme der psychisch Erkrankten aufmerksam machen, aber auch auf die Probleme des Umfeldes und der Angehörigen, die ja diejenigen sind, die dann den Erkrankten wieder auffangen müssen. Das Sicherheitsnetz ist nie so dicht gewoben, dass nicht irgendwo noch jemand sein muss, der in schwierigen Zeiten für den Kranken da sein muss. Das sind in den meisten Fällen die Angehörigen oder sehr gute Freunde.

Das müssen Freunde sein, die sehr viel auf sich nehmen wollen, weil es eben sehr anstrengend ist, wenn jemand gerade in der Psychose ist, dass man trotzdem mit ihm so umgeht, dass es auch für ihn eine Bereicherung ist. HPE versucht, diese Angehörigen und diese Freunde in ihrem Wirken zu unterstützen. Das machen wir mit Informationsveranstaltungen, da macht vor allem HPE Wien sehr viele Veranstaltungen, aber auch in den anderen Bundesländern gibt es Veranstaltungen.

Wir machen es mit Selbsthilfegruppen? Denn wir haben gesehen, wie angenehm es ist, mit jemandem zu reden, der ähnliche Probleme hat. Sehr oft hilft es schon, wenn man sich einmal im Monat trifft und ein bisschen darüber aussprechen kann, wie es einem geht. Das ist genau das gleiche Konzept, wie es für die psychisch Erkrankten angenehm ist, so ist es auch für die Angehörigen angenehm, wenn man einmal über die Probleme reden kann. Wer eben nicht in so eine Selbsthilfegruppe gehen will, der kann dann zu Beratungen gehen.

Das sind Beratungen auf gleicher Augenhöhe, weil wir als Angehörige dann andere Angehörige beraten und uns sehr gut vorstellen können, was in ihnen vorgeht, was ihre Probleme sind. Das fängt an bei Wie schaffe ich es, dass der Partner oder mein Kind jetzt Medikamente nimmt? Weil ich sehe, wenn er sie nicht nimmt, dann geht es ihm sehr schlecht. Und es ist ein ganz ein schwieriger und langer Weg, bis jemand Medikamente nehmen will. Oder wie schaffe ich es, dass er vielleicht doch ein bisschen hinausgeht? Es gibt psychisch Erkrankte, die sich den ganzen Tag einschließen und das tut einem als Mutter furchtbar weh, wenn man weiß, die Tochter, die kann nicht hinausgehen, die traut sich nicht vor die Türe. Da leidet man auch sehr mit und da tut es wiederum dieser Mutter gut, wenn sie woanders hingehen kann und darüber reden kann.

Oder die Informationen in Bezug auf die finanziellen Angelegenheiten: Psychische Erkrankung bedeutet in den meisten Fällen einen finanziellen Abstieg: Man bekommt, wenn man Glück hat, eine Invaliditätspension, hat aber meist nicht sehr lange gearbeitet, daher ist die Invaliditätspension eine sehr geringe. Jetzt muss man damit auch auskommen, das ist eine sehr schwierige Situation. Oder man berät die Angehörigen, dass man um Pflegegeld ansuchen kann, um Rezeptgebührenbefreiung..., weil das ist das, was die Angehörigen dann übernehmen.

Freak-Moderator: Ich hätte noch eine andere Frage: »Strukturierung«. Sie haben einmal gesagt, das ist ganz wichtig für diese Menschen, warum?

Angelika Klug: Wenn jemand ein strukturiertes Leben hat, wenn er das schon einmal schafft, in der Früh aufzustehen und wohin gehen zu müssen oder zu können, dann ist das schon wieder ein Schritt vorwärts. Bei einer psychischen Erkrankung gehen die Schritte immer sehr, sehr langsam und wenn jemand einmal diesen Schritt gemacht hat, ist es schon wieder ein bisschen mehr in Richtung Normalität, in Richtung Lebensqualität.

Freak-Moderator: Das bedeutet aber auch: Wenn es jemand schafft, eine einfache Arbeit zu finden, die ihm oder ihr strukturieren hilft, dass das dann auch eigentlich jemanden stärken könnte. Worauf muss man dann aber aufpassen, was sollte nicht passieren, wenn man eine Arbeit sucht oder dann eine Arbeit hat?

Angelika Klug: Die Problematik ist dann die Überforderung. Es ist sehr schwer, sich selbst einzuschätzen und zu wissen, ich kann 20 Stunden arbeiten oder ich kann nur 10 Stunden arbeiten, ich darf aber auf keinen Fall voll erwerbstätig sein, denn dann komme ich wieder in die Krankheit zurück. Das will ich natürlich verhindern. Deshalb ist es so wichtig und deshalb bin ich sehr froh, wenn das Bundessozialamt so viel wie möglich anbietet. Ob es jetzt zwei Stunden pro Tag sind, weil der Kranke nur zwei Stunden arbeiten kann, dann ist schon viel geholfen und wieder ein Schritt in eine für den Kranken günstige Richtung.

Freak-Moderator: Das Bundessozialamt ist angesprochen, wir sind eben auch beim Thema Arbeit. Meine Frage an Sie: Welches Projekt, an das Sie sich erinnern können und an dem Sie auch beteiligt waren, ist Ihnen besonders wichtig?

Hans-Georg Schindler: Es sind grundsätzlich alle gleich wichtig. Weil wir ja natürlich sehr gerne Projekte fördern, bei denen wir sehen, dass mit Engagement und mit Herzblut mit Menschen mit Behinderung gearbeitet wird! Ich kann also keines wirklich hervortreten lassen. Aber was wir selber anbieten, auch in der Behörde, ist die Persönliche Assistenz. Also Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz, wo direkt eine Assistentin oder ein Assistent mit einer/einem Betroffenen arbeitet. Und wir arbeitenmit einer Institution, mit der Wiener Assistenzgenossenschaft (WAG), mit Mag. Dorothea Brozek zusammen. Das hat sich jetzt wirklich bewährt, die WAG ist jetzt fünf Jahre alt geworden, da haben wir, das Bundessozialamt wirklich gelernt, Drehscheibe zu spielen. Dass wir nämlich eine direkte Arbeit zwischen Assistent und behindertem Menschen finden und auch zum Teil bezahlen konnten. Das wäre einmal die Assistenz am Arbeitsplatz.

Dann gibt es natürlich auch geschützte Arbeitsplätze, auch für psychisch Erkrankte, wobei man natürlich auf das Krankheitsbild Rücksicht nimmt und auch schaut, wie lange ein Kranker diese Arbeit jetzt aushält, die ihm Spaß macht.

Denn er oder sie kommt ja sehr gerne, aber manchmal dauert es nur 50 Minuten, und manches Mal kann er oder sie eine ganze Woche durcharbeiten. Es ist ein wirklicher Lernprozess für alle! Und wir freuen uns natürlich, dass wir mit der HPE oder mit Sonnensegel oder Crazy Industries oder pro mente oder Freak-Radio so gut zusammenarbeiten. Ich hoffe, dass es so weitergeht und wir wirklich eine vollkommene Gleichstellung bekommen.

Freak-Moderator: Ich möchte noch einmal zu Ihnen kommen, Herr Neuhold. Das Stück findet ja nicht ganz zufällig hier beim Grünen Kreis statt. Warum haben Sie sich dazu entschlossen oder wie sind Sie dazu gekommen, dass es hier gemacht wird?

Kurt Neuhold: Auf alle Fälle muss ich mich da im Namen des Teams vom grünen Kreis und vom Pool 7 vor allem bei Eva Jankowsky bedanken, die mit großem Engagement und voller Enthusiasmus zu uns gekommen ist. [Sie hat] gefragt, ob Sie das bei uns probieren kann. Mich hat es sehr gefreut, als Sie gekommen ist und ich habe mir gedacht: Das ist eine ideale Kombination, weil genau damit einige Themen, um die wir uns bemühen, in diesem Projekt zu verwirklichen [sind], da ein wirklich optimales Forum finden. Was wir hier machen, ist, dass wir wirklich den Initiativen und den kreativen Ausdruckswünschen und -bedürfnissen der Menschen, die einen Platz im ganz normalen, standardisierten Leben vielleicht nicht finden oder die bis jetzt gesellschaftlich eher an den Rand gedrängt wurden: Damit sie hier ein Forum finden, in dem sie sich mit ihren Arbeiten und ihren Leistungen präsentieren können. Dieses Netzwerk für Kulturinitiativen, für Diskussionen im Umfeld, unter Umständen vielleicht auch in Form einer zukünftigen Zusammenarbeit mit dem Bundessozialamt oder mit der HPE - wenn die irgendwelche Räume suchen: das ist ganz einfach ein Anliegen von »Pool 7«. Und was bei uns auch als »Pool 7« Arbeitsprojekt dazukommt, ist, dass dieser Betrieb hier von suchtkranken Menschen nach Abschluss einer Langzeittherapie betreut wird. Wir versuchen hier also Arbeitsprojekte aufzuziehen, wie unter anderem das Catering.
Danke schön an das Cateringteam hinten vom grünen Kreis! Die machen nicht nur für uns heute die Brötchen, sondern die können Groß-Caterings bis zu 600 Personen anbieten. Das heißt, dass durch die Durchführung dieser ganz konkreten Arbeitsschritte ein ganz wichtiges Arbeitstraining erfolgt. Und Pool 7 ist das Büro dafür.

Freak-Moderator: Jetzt gäbe es natürlich noch jede Menge Fragen. Ich denke, die Zeit reicht allerdings nicht aus. Wenn Sie noch etwas ganz etwas Dringendes fragen möchten, hätten Sie jetzt noch eine allerletzte Gelegenheit dazu. Möchte noch irgend jemand eine Frage stellen oder irgendetwas dazu sagen?

Dritte Publikumsmeldung: Ich weiß jetzt zu wenig über die Entstehung von psychischen Erkrankungen, aber mich würde noch interessieren, weil das für mich auch im Stück ein bisschen so heraus gekommen ist: dass natürlich am Beginn einer psychischen Erkrankung oder am Beispiel von Nijinski gestanden ist, dass er sich in Bereiche vorgewagt hat, wo ihn die anderen nicht mehr verstanden haben.

Da ist er mir noch gar nicht so psychotisch oder verrückt vorgekommen, das waren einfach ver-rückte Sichtweisen auf Probleme, die eigentlich durchaus legitim sind. Da stellt sich mir die Frage - die beiden haben ja aus meiner Sicht beide ihre eigenen Interessen auf den Nijinski gehabt - inwiefern nicht Gesellschaft und gesellschaftliche Strukturen und ihre Reaktionen darauf faktisch das Hineinrutschen begünstigen oder bremsen könnten, in einen Verlauf, der sich dann in einer psychischen Erkrankung verfestigt. Gewissermaßen je nachdem, wie man darauf reagiert, auf ver-rückte Standpunkte...

Freak-Moderator: Ich sehe noch eine Wortmeldung:

Vierte Publikumsmeldung: Ich wollte mich nur als »Stimmenhörerin« einbringen. Ich höre seit acht Jahren eine Stimme und lebe sozusagen mit ihr. Ich habe mir dann gedacht, nachdem ich das Wort »Stimmenhören« das erste Mal bei einer Zwangsanhaltung in der Psychiatrie vernommen habe, dass es dann vielleicht wichtig ist, dieses Wort in unsere Gesellschaft einzubringen. Damit einmal gefragt wird, was ist Stimmenhören eigentlich? Das versuche ich in Wien zu tun, in Linz gibt es ein Stimmenhör-Netzwerk, das an das internationale Netzwerk Intervoice angeschlossen ist. Ich war gerade auf einem Kongress in Berlin, der alle zwei Jahre zum Thema Stimmenhören stattfindet. Ich glaube, besonders Wien ist ein Entwicklungsland für das Stimmenhören - und darum wollte ich mich heute hier vorstellen, mein Name ist Monika Mikus.

Freak-Moderator: Ich glaube, das Wichtigste ist, Sie hören Stimmen, Sie sagen das auch ganz offen und Sie haben gelernt damit umzugehen und Sie stehen auch dazu.

Monika Mikus: Ich stehe dazu, ja.

Freak-Moderator: Dazu kann man eigentlich nur gratulieren. (Applaus)

Weil ja vorhin die Frage gestellt wurde, wie denn das am Anfang gewesen ist, würde ich gerne die Eva Jankovsky, die Autorin und auch Schauspielerin dieses Stückes fragen: Wie war denn eigentlich der Zugang zu dieser Behinderung, dieserpsychischen Erkrankung von Nijinski, dass Sie dieses Stück geschrieben haben und da auch mitspielen?

Eva Jankovsky: Am Anfang ist das Tagebuch gestanden. Das habe ich durch einen Kollegen in die Hände bekommen und gelesen. Ich habe mich eigentlich auch mit der vorigen Frage des Herrn konfrontiert. Diese Frage ist in mir sofort aufgekommen: Wieso wurde er als krank abgestempelt?

Dieses Tagebuch hat so viele Sätze und so viele Gedanken drinnen, die, meiner Meinung nach, eigentlich gar nicht als verrückt anzusehen sind, sondern im Gegenteil! Das ist dann eher so eine Sache, wie wenn er zum Beispiel eine Stimme gehört hätte. Das ist ja auch etwas quasi Übernatürliches. Warum hat die Romola soviel Angst gehabt, warum wurde er sofort auch von dem Doktor Greiber mit Morphium behandelt und so weiter? Das sind alles Fragen, die in meinem Kopf bis zum heutigen Tage nicht wirklich beantwortet sind: Die wollte ich eigentlich in den Raum stellen.

Natürlich braucht es in jedem individuellen Fall einen Psychiater oder einen Psychotherapeuten oder natürlich jemanden, der das von der wissenschaftlichen Seite beurteilen kann, aber ich glaube, genau das wollte ich hinterfragen. Klar hat Nijinski ein sehr unregelmäßiges Leben gehabt, ist ständig auf Tournee gewesen, ständig unter finanziellem Druck gestanden, die Beziehung zu Diaghilew war keine glückliche, das war eigentlich eine Zwangsbeziehung, aus einer Notlage heraus - denn Diaghilew war homosexuell, Nijinski war es nicht. Immerhin hat er fünf Jahre lang in dieser Beziehung gelebt und Diaghilew hat sehr viel beigetragen, ihn von anderen Menschen abzuschirmen... Das war sicher auch ein großer Druck. Dann hat er die Romola geheiratet, daraufhin hat ihn Diaghilew sofort entlassen, dann kam der Krieg dazu. Er war eineinhalb Jahre lang unglücklich mit seiner Frau bei seiner Schwiegermutter im Haus untergebracht... Es waren also ganz, ganz viele Dinge, die keine Stabilität in seinem Leben zugelassen haben und das hat sicherlich dazu beigetragen, dass er da weiter und weiter hineingerutscht ist. Auch in eine Phase, in der er eben nicht geantwortet hat, also Katatonie... beziehungsweise stellt sich die Frage, inwieweit ihm das sogar bewusst war. Ich glaube, der persönliche Druck mit seinen Beziehungen, seinem Umfeld, das ist ihm zuviel geworden.

Freak-Moderator: Man kann aber sagen, die Grenzen sind verschwommen, denn es ist ja auch uns im Stück nicht ganz klar geworden: Was war es jetzt wirklich? Wie weit war es so oder auch nicht?

Eva Jankovsky: Die Frage ist sozusagen: Wie lange ist etwas normal - und ab wann ist es nicht mehr normal?

Freak-Moderator: Ich würde gerne die Chance nützen, auch den Darsteller des Diaghilew zu Wort kommen zu lassen. Wie haben Sie sich denn dieser Rolle genähert? Wie haben Sie sich dieser Rolle und dem Wahnsinn - wenn ich das jetzt so sagen darf - genähert?

Clemens Aap Lindenberg: Das ist ein böser, menschlich habgieriger Mensch, der also einen Menschen haben möchte, besitzen möchte, denke ich. So sind wir an das herangegangen. Der hat eine Idee wie man Geld machen kann und macht diesen armen Nijinski zu Geld. Das ist das, was man ihm vorwerfen kann.

Auf der anderen Seite ist er ein ganz sensibler und furchtbar verletzbarer Mann, schiach und liebt natürlich diesen Nijinski, liebt den abgöttisch und verfällt dadurch in eine sexuelle Hörigkeit, Abhängigkeit ihm gegenüber und checkt das schon alles ganz gut. Der macht das, aber es ist, so wie das Stück beginnt, da ist die Information, dass er Nijinski - das ist eine meiner Lieblingsstellen im Stück - sagt: "Was, er heiratet? Eine Frau?". Wäre es ein Mann, gut, das könnte man akzeptieren, aber eine Frau, das ist die Katastrophe schlechthin. Ich mag solche Figuren, die einfach verletzbar sind, die sind egoistisch, die haben ihre Ideen. So habe ich mich - das wollte ich eigentlich sagen - der Figur genähert, einfach diesem Menschen. Mehr kann man eigentlich zum Diaghilew nicht sagen.

Freak-Moderator: Er war doch der Vertreter - oder kommt in dem Stück als solcher vor -, der immer eigentlich sagt "Naja, das ist schon erklärlich, der ist ein Künstler, so verrückt ist das gar nicht". Ist das Ihrer Meinung nach Kalkül gewesen?

Clemens Aap Lindenberg: Ich weiß nicht, ob das Kalkül ist und ich muss auch ganz ehrlich sagen, für mich ist es wahnsinnig schwer, überhaupt zu verifizieren, wo beginnt Irrsinn und wo hört er auf. Ich habe dieser Diskussion wirklich aufmerksam zugehört und ich frage mich jeden Morgen wenn ich aufstehe, ob ich nicht eigentlich auch schon wahnsinnig geworden bin. Ich habe auch in meinem Freundeskreis Menschen kennengelernt, die dann einfach irrsinnig geworden sind, die sind einfach verrückt geworden.

Diaghilew ist nicht verrückt. Er liebt diesen Mann, diesen wunderschönen Nijinski und das ist ein Mensch, den man irgendwann lieben muss, als Figur und dann kann man das machen und sonst nicht.

Freak-Moderator: Eine allerletzte Frage möchte ich hier [auf dem Podium] zum Abschluss aber doch noch stellen. Wir haben jetzt gehört, die Grenzen verfließen, die Grenzen verschwimmen: Ich denke, das wird wohl auch Thema gewesen sein. Wie geht man denn damit um? Wir haben vorhin schon von Grenzen gesprochen. Es ist doch auch so, dass es keine Grenzen gibt, wenn man irgendwo hineinfällt. Ist das so?

Ernst Lichtenberger: Ich finde der Zugang ist halt immer verschieden, wie man das sehen kann, was jetzt normal oder nicht normal ist. Diese Frage ist eben auch deswegen schwer zu beantworten, weil viele Menschen Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen haben und schon festgelegte Meinungen darüber haben, was eben normal ist.

Aber das ist in Wirklichkeit nicht beantwortbar, finde ich, wenn man von Grenzen spricht: Von meiner persönlichen Situation kann ich sagen, ich habe diese Grenzen im Sinn meiner Erkrankung auch nicht gesehen. Nur muss man sie sich eben, wenn man aus diesem akuten Erkrankungsbild herauskommt, wieder erarbeiten. Denn Grenzen sind absolut notwendig, um eine psychische Erkrankung zu bewältigen, um auch wieder am Leben teilnehmen zu können.

Freak-Moderator: Wir haben vorhin gesagt, jede psychische Erkrankung, jede psychische Behinderung ist individuell. Würde das dann auch bedeuten, dass man eigentlich dann auch individuell versucht, damit umzugehen, den Weg zu finden, damit einigermaßen gut umzugehen?

Ernst Lichtenberger: Das glaube ich sehr wohl, dass der individuelle Weg sehr wichtig ist. Für jeden ist es anders. Es kann nicht für zwei Menschen der gleiche Weg gut sein, um aus dieser Erkrankung herauszukommen und wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Das ist ja das schwerste, weil man durch die Erkrankung sehr viel fremdbestimmt wird, weil man eben therapiert wird oder arbeitslos ist oder immer Menschen hat, die einem helfen müssen. Darum glaube ich, Selbstbestimmung zu erarbeiten, das kommt aus einem selbst heraus. Vielleicht wenn man eine Gemeinsamkeit in allem sieht: dass man sich das selbstbestimmte Leben irgendwie erarbeiten muss, was aber jeder anders machen muss. Was für einen gut ist, muss für den anderen nicht gut sein.

Freak-Moderator: Ich glaube, »Selbstbestimmung« ist ein schönes Wort, mit dem wir hier aufhören können. Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Diskussion und danke, dass Sie noch so lange ausgeharrt haben.

Abmoderation: Gestaltung und Moderation: Gerhard Wagner. Weitere Informationen zu diesem Stück finden Sie auf unserer Homepage www.freak-radio.at unter Freak aktuell. Nächste Woche geht es bei Freak-Radio um eine Frau mit Behinderung, die Mutter wurde. Katharina Zabransky hat mit ihr vor und nach der Geburt gesprochen.


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