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Rubrik: Lesen statt Hören
30. April 2010

„Gesetze schaffen Bewusstsein.“ – Ein Interview mit Dorothea Brozek

von Margarete Endl und Sandra Knopp

Dorothea Brozek spricht darüber, wie Gesetze die Situation von Menschen mit Behinderung in Österreich in den vergangenen zehn Jahren verbessert haben. Und was noch geändert gehört.

Dorothea Brozek sitzt im elektrischen Rollstuhl. Sie trägt einen lindgrünen Pullover.

Dorothea Brozek; Foto: unit_com

Vor neun Jahren erschien auf Freak Radio das erste Porträt von Ihnen. Sie haben das Radio mitbegründet. Was hat sich seither getan? Wie hat sich im vergangenen Jahrzehnt die Situation für Menschen mit Behinderungen verbessert? Und welche Rolle haben Sie dabei gespielt?

Das ist eine Megafrage. Ein Meilenstein für uns war die WAG – Assistenzgenossenschaft, die wir im Februar 2002 gegründet haben. Ab 2001 haben wir daran gearbeitet. Wir hatten schon lange im Kopf, persönliche Assistenz auf die Beine zu stellen. Wir – das war eine Gruppe von behinderten Frauen und Männern, die auf Unterstützung im Alltag angewiesen waren und sind. Das war somit ein sehr persönliches Thema für uns. Wir alle mussten schauen, dass wir nicht in ein Heim kommen. Anfangs hat jeder für sich allein eine individuelle Regelung durchgeboxt – da ging es auch viel um finanzielle Ressourcen. Im September 2000 hat dann die Regierung die sogenannte „Behindertenmilliarde“ ausgerufen. Eine Milliarde Schilling sollte zur Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen eingesetzt werden. Daraufhin haben wir – der Verein „Selbstbestimmt Leben Wien“ – beratschlagt, was wir tun könnten. Wir dachten uns: Wenn das wirklich ernst gemeint ist, dann müssen wir uns daran beteiligen. Von diesem Kuchen wollen wir auch ein Stück haben. So haben wir 2001 begonnen, unsere Projekte zu konzipieren. Es ging auch tatsächlich durch. Im Nachhinein wundere ich mich noch immer darüber, dass in der Zeit, wo politisch alles auf den Kopf gedreht war, wo ich persönlich wegen der Schwarz-Blau-Regierung am liebsten ausgewandert wäre, diese Nische für die Belange behinderter Frauen und Männer geschaffen wurde.

Warum war das so? Warum passierte es gerade unter Schwarz-Blau?

Ich glaube, das war einfach eine gute Fügung. Die Regierung wollte etwas anders machen und hat dafür Geld zur Verfügung gestellt.

Gab es Druck von Seiten der EU? Oder eine Anregung?

Es gab die EU-Richtlinie, etwas für die Chancengleichheit behinderter Menschen zu tun. Das spielte vielleicht eine Rolle.

Wann haben Sie die WAG gegründet?

Im Februar 2002. Im ersten Jahr 2002 haben wir 7000 Assistenzstunden organisiert, in einem ganzen Jahr. 2009 haben wir an die 15.000 Stunden pro Monat organisiert, das sind auf das Jahr gerechnet 180.000 Stunden. Wir hatten jedes Jahr eine Umsatzsteigerung von 20 bis 50 Prozent. Eine tolle Geschichte. Zuerst waren wir nur in Wien, 2006 haben wir mit einer Geschäftsstelle in Niederösterreich erweitert.

Wer bezahlt die Assistenz?

Es gibt Richtlinien zur Förderung der Persönlichen Assistenz am Arbeitsplatz, die durch unser Projekt erlassen wurden – zwei Jahre nach der Gründung der WAG, also 2004. Die Persönliche Assistenz für den Alltag wird über Pflegegelder und über die jeweiligen Zuschüsse des Landes bezahlt. In Wien gibt es seit 2008 die sogenannte Pflegegeldergänzungsleistung für Persönliche Assistenz. Vorerst ist das auf drei Jahre befristet, dann wird man weiter schauen. Davor gab es einen zweijährigen Modellversuch. Das alles hat die Unternehmensgründung erwirkt, unser tolles WAG Team. Ich bin schon sehr stolz darauf, was wir da bewegen konnten.

Ich bin aber im Februar vorigen Jahres ausgestiegen und habe die WAG-Geschäftsführung übergeben: an meine Kollegin, die die WAG mitgegründet und bis dahin die WAG mit mir gemeinsam geleitet hat.

Warum haben Sie aufgehört?

Es war an der Zeit, wieder neue Sachen zu machen. Es war an der Zeit, mein Leben wieder in eine andere Richtung zu bewegen.

Wohin haben Sie Ihr Leben bewegt?

Einerseits bin ich selbständige Coach, Trainerin und Supervisorin. Das war ich auch bereits neben der WAG, und innerhalb der WAG sowieso. Ich bin ausgebildete Lebens- und Sozialberaterin, Sexualpädagogin und Supervisorin. Ich hatte den Wunsch, mich selbstständig auf den Weg zu machen. Andererseits habe ich in den letzten Jahren viel über Vertrieb und Marketing gelernt. Ich arbeite nun mit einem internationalen Team zusammen. Wir bauen eine neue Premiummarke auf und spezialisieren uns auf Themen wie Energie, Entsäuerung, Entgiftung und Anti-Ageing.

Sie haben Slawistik und Politikwissenschaft studiert. Hat Ihnen das Studium der Politikwissenschaft bei Ihrer politischen Tätigkeit geholfen?

Nein. Es war ein spannendes Studium, ich habe es sehr geliebt. Aber dass es mich unterstützt hätte, würde ich nicht sagen. Was mich unterstützt hat, war das Tun, das Interesse und die Notwendigkeit, etwas zu bewegen. Und die vielen Menschen, mit denen ich zu tun hatte, und die Vernetzung.

Wie ist die Selbstbestimmt Leben-Bewegung entstanden?

Ich habe gemeinsam mit vielen anderen im Jahr 2000 die SLIÖ, die Selbstbestimmt Leben Initiative Österreich, mitbegründet. Die SLIÖ besteht aus allen Vereinen und Initiativen, die österreichweit tätig sind. International begann es in den 1980er Jahren. Es gab die Krüppelinitiativen, aber damals war ich noch nicht dabei. Daraus entwickelten sich die Selbstbestimmt Leben-Initiativen. Heute gibt es in jedem Bundesland, ausgenommen Burgenland und Niederösterreich, einen Verein oder zumindest eine Initiative.

Ich war einige Jahre Sprecherin der SLIÖ, jetzt ist es Bernadette Feuerstein aus Wien. 2000 wurde ich vom EU-Weisenrat eingeladen und habe für die SLIÖ gesprochen. Das war aufregend.

Beim Weisenrat ging es darum, ob die EU die Maßnahmen gegen Österreich wieder aufheben sollte, die sie bei der Bildung der Regierung von ÖVP und FPÖ beschlossen hatte.

Ich kann mich noch erinnern, wie emotionalisiert ich damals war. Ich dachte, die Welt bleibt stehen. Nach den letzten zehn Jahren weiß ich: Die Welt bleibt lange nicht stehen. Mittlerweile glaube ich, dass eigentlich alle Parteien gleich sind. Egal, welches Farbmascherl sich wer rumtut. Manche Gruppierungen finde ich so scheinheilig. Da ist man eigentlich besser dran, wenn man von vornherein weiß, dass man es mit einer konservativen rechten Partei zu tun. Statt mit einer Partei, die sich ganz andere Parolen auf die Fahne hängt, aber jahrzehntelang Naziverbrecher groß werden hat lassen. Das ist eine Scheinheiligkeit, die ständig weiter getrieben wird. Ich hätte mir nie gedacht, dass ich politisch so abgeklärt werden kann.

Was hat sich gesellschaftspolitisch in den vergangenen zehn Jahren getan?

Es hat sich viel getan, weil behinderte Menschen für ihre Rechte gekämpft haben. Seit 2006 gibt es das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz. Auch wenn es an vielen Stellen optimierungsbedürftig ist, merke ich seine positiven Auswirkungen und freue mich total darüber. Gesetze schaffen Bewusstsein. Wie oft haben wir gehört, dass erst das Bewusstsein für etwas geschaffen werden müsse, dass wir vorher noch Sensibilisierungsmaßnahmen bräuchten. Nein, es sind Gesetze, die Bewusstsein schaffen – nicht 100 Jahre Sensibilisierungsmaßnahmen. Wenn ich jetzt ein Restaurant anrufe, einen Tisch reservieren will und frage, ob das Lokal barrierefrei ist, kann fast jeder in der Gastronomie mit dem Begriff „barrierefrei“ etwas anfangen. Die Antwort kann dann so sein: „Wir haben eine 16 cm hohe Stufe beim Eingang, da helfen wir Ihnen gerne, aber entschuldigen Sie bitte, dass wir noch keine barrierefreie Toilette haben.“ Da fühlt man sich willkommen, auch wenn es immer noch nicht optimal ist. Aber das Bewusstsein ist nun langsam vorhanden. Jetzt entschuldigt sich der Gastronom dafür, dass es noch eine Stufe gibt.

Vor zehn Jahren hat keiner das Wort „barrierefrei“ verstanden. Ich musste oft dreimal nachfragen, ob ich in das Restaurant hineinkomme, ob es irgendwo eine Stufe gibt. Und es hat gedauert, bis man Antworten bekam, manchmal haben sie gestimmt, manchmal nicht, und keiner wäre von sich aus auf die Idee gekommen zu sagen: Übrigens: die Toilette funktioniert nicht. Das ist schon schön, das sind fast schon Zustände wie in den USA. Als ich 2000 zum ersten Mal in den USA war, war ich begeistert.

Was war damals der Unterschied zwischen Österreich und den USA?

Die Haltung in den USA war, dass ein Dienstleister seine Dienstleistung allen zur Verfügung stellen müsse. Wenn etwas nicht klappt, hat der Dienstleister eine Bringschuld.  In Österreich dagegen war man vor zehn Jahren als behinderter Mensch ein Bittsteller. Als ich im Jahr 2000 in Hawaii war, gab es dort einen Inselbus im alten Stil. Doch der Bus hatte eine Hebebühne, die man von außen nicht gesehen hat. Ich war davon total beeindruckt und habe dem Buslenker gesagt, wie toll das sei. Er hat mich mit großen Augen angeschaut und gesagt: „Keep cool“. Die Busse müssten die Einrichtung haben, sonst bekämen sie keine Fahrlizenz. Der Busfahrer hat wohl geglaubt, ich sei vom Mars – weil ich mich wegen der Hebebühne vor Freude so überschlagen habe.

Und hat sich seither in Österreich etwas getan?

Es hat sich viel getan in dieser Hinsicht. Vor ein paar Wochen war ich in der Albertina. Zwischen den Räumen gibt es immer wieder zwei bis drei Stufen. In diese Stufen sind nun Hebebühnen eingebaut, die man von außen nicht sieht, weil sie sehr ästhetisch mit Holz verkleidet sind. Da war ich wegen dieser „amerikanischen Zustände“ begeistert. Der Mann, der die Hebebühnen bediente, war sehr freundlich und aufmerksam. Ich habe mich nicht ständig bei ihm melden müssen, er hat darauf geachtet, ob ich etwas brauche. Ich sagte ihm, wie toll das sei. Er sagte, die Hebebühnen waren beim Umbau der Albertina vorgeschrieben – ohne diesen Einbau hätte das Museum nicht eröffnen können. In dieser Hinsicht hat sich wirklich einiges getan.

Wie steht es um Barrierefreiheit in anderen Ländern?

In den USA ist die Situation am besten, auch bestimmte EU-Länder haben in baulicher Hinsicht einiges getan, etwa Großbritannien. Aber es ist noch viel zu tun, auch in ansonsten vorbildlichen Ländern. Wenn man Schweden kennt, weiß man, dass dort auch nicht alles so toll barrierefrei ist. Dafür ist die finanzielle Absicherung der Assistenzsicherung in Schweden großartig – die gibt es bereits seit 1994. Auch Irland hat eine gute Persönliche Assistenz.

Wie sieht die Absicherung der Persönlichen Assistenz in Österreich aus?

Die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern macht bestimmte Dinge schwierig. Der Bund ist zuständig für alles, was Arbeit betrifft, die Länder sind für die anderen Lebensbereiche zuständig. Der Begriff „Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz“ ist somit nur ein finanztechnischer Begriff – das ist jene Assistenz, die der Bund bezahlt. Dafür gibt es seit 2004 eine bundeseinheitliche Richtlinie. Für die anderen Lebensbereiche sind die Länder zuständig, und da hat jedes Bundesland eigene Regelungen. In Oberösterreich gibt es seit September 2008 das Chancengleichheitsgesetz. Das Gesetz regelt unter anderem die Finanzierung der Persönlichen Assistenz. Im Gegensatz dazu gibt es in Wien eine Pflegegeldergänzungsleistung.

Welche Unterschiede gibt es bei den Regelungen für Persönliche Assistenz in Oberösterreich und Wien?

Ich greife nur einige wesentliche Punkte heraus: Oberösterreich ist das einzige Bundesland, in dem es einen Rechtsanspruch auf Persönliche Assistenz gibt. Nachteilig ist, dass man die Stunden nur bei einem Anbieter kaufen kann – nichts gegen den Anbieter, er ist gut und bemüht sich. Es ist das System, das stört. Man kann nicht selber bestimmen, wo man die Assistenzleistung kauft.

In Wien gibt es eine Pflegegeldergänzungsleistung. Das entspricht den Vorstellungen von Selbstbestimmt Leben am meisten: Geld auf die Hand, damit man sich wirklich frei entscheiden kann. Schwierig ist hier, dass es keine Transparenz über die Höhe der Fördersumme gibt, die Leistung einkommensabhängig ist und dass viele behinderte Menschen von dieser Leistung ausgeschlossen sind.

Gibt es etwas, das Sie unbedingt geändert haben möchten?

Problematisch ist, dass die Zahlung für Persönliche Assistenz an die Höhe des Einkommens gebunden ist. Nur wenn das Einkommen eine bestimmte Summe nicht übersteigt, wird die Persönliche Assistenz zur Gänze bezahlt. Wenn man mehr verdient, wird die Bezahlung der Persönlichen Assistenz im selben Ausmaß gekürzt. Doch das führt das Bemühen von Menschen mit Behinderung, Geld zu verdienen, ad absurdum – besonders jener Menschen mit einer schweren Behinderung.

In Wien darf man rund 1600 Euro netto verdienen. Das heißt, man kann nie mehr als 1600 Euro netto verdienen. Wer mehr Geld haben will, hat Pech gehabt. Denn dass man sehr gut verdient, die Persönliche Assistenz aus eigener Tasche bezahlt und noch immer mehr als 1600 Euro verdient, ist nicht sehr wahrscheinlich.

Welche Rolle spielen eigentlich Menschen mit „High Profile“, etwa der Schauspieler Christopher Reeves, solange er lebte, für das Anliegen von Menschen mit Behinderung?

Viele von ihnen sind für die Selbstbestimmt Leben-Bewegung nicht unbedingt hilfreich. Oft wurden sie – was natürlich tragisch ist – mitten aus ihrem Leben herausgerissen und müssen sich ein neues Leben aneignen. Wenn Menschen ganz plötzlich querschnittsgelähmt sind, ist für sie der einzige große Wunsch, diese Behinderung wieder weg zu haben. Manche hoffen auf Stammzellentherapien und setzen sich dafür ein, statt ihren Namen für die Menschenrechte aller behinderten Menschen einzusetzen. Da braucht es eine längere Zeit und viele Reflexionen, bis sich das Denken verändert. Bis man bereit ist, hinauszugehen und zu sagen: Ich bin mit meiner Behinderung, so wie ich bin, ich akzeptiere die Grenzen, die mir meine Behinderung setzt, und nehme mein neues Leben an und mache das alles zu einer Stärke. Und ich nehme mir das Recht heraus, Rechte einzufordern und zu verlangen. Das kann keiner sofort, das dauert einfach. Daher sind die Promis nicht sehr hilfreich. Sicher gibt es einige, die sich für Rechte einsetzen, aber die sind spärlich.

Was ist mit dem Schweizer Skifahrer Silvano Beltrametti, der nach einem Sturz querschnittgelähmt ist und in Interviews sehr weise klingt?

Gerade Sportler haben es schwer, mit ihrem neuen Leben zurechtzukommen. Sie sind so auf Leistung getrimmt. Im Prinzip finde ich das gut, ich bin auch sehr für Leistung. Aber bei vielen fehlt mir ein zusätzlicher Aspekt: der Menschenrechtsaspekt, das politische Bewusstsein, das mit der Selbstbestimmt Leben-Bewegung verknüpft ist.

Oder der Astrophysiker Stephen Hawking?

Der noch am ehesten. Allein schon durch seine Person und seine Auftritte bewegt er etwas. Er macht seinen Job, er ist einfach. Er tritt öffentlich auf, obwohl er nicht mehr sprechen kann, sich nicht bewegen kann. Von ihm habe ich noch nie gelesen, dass er sich für Stammzellentherapie oder Gentechnik einsetzt.

Ich persönlich finde, es ist Zeitverschwendung, darüber nachzudenken, wie ich meine Behinderung wegkriegen könnte. Es geht darum, so gut wie möglich zu leben und mich dafür einzusetzen, dass auch andere behinderte Leute gut leben können.

Gibt es einen Unterschied im Bewusstsein, je nachdem, ob man mit einer Behinderung aufgewachsen ist oder einen Unfall erlitten hat?

Das kann man so generell nicht sagen – es kommt auf die Persönlichkeit an und auch sehr aufs Umfeld: wie steht meine Familie hinter mir, werden meine Talente gesehen oder nur die Defizite, bekomme ich die notwendigen Hilfsmittel, habe ich Vorbilder mit Behinderung in Reichweite und so weiter. Für mich ist meine Behinderung mein persönlicher Lifestyle.

Das Interview mit Dorothea Brozek führten Margarete Endl und Sandra Knopp

Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projektes "Lebens- und Arbeitswelten" erschienen.


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