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Rubrik: Freak Aktuell
02. August 2007

Gehörlosigkeit ist (m)eine Kompetenz! (Teil 2)

von Redaktion

Christiane Linnartz ist gehörlos und arbeitet als Coach und Kommunikationstrainerin. Im zweiten Teil der Freak-Radio Interviewserie denkt sie darüber nach, wie Gehörlosigkeit die eigene Persönlichkeit beeinflussen kann ...

Freak-Radio: Inwiefern prägt Ihre Arbeit Ihr Leben?

Christine Linnartz: Meine Gehörlosigkeit ist für mich eine Kompetenz. Das ist mein Lebenswerk. Ich habe mir überlegt, was aus mir geworden wäre, wenn ich hören könnte. Ich denke, ich wäre eine No-Name Person geworden, eine graue Maus. Ich würde wahrscheinlich genau so wie meine Mutter im Verwaltungsapparat in Trier arbeiten. Ein Gefühl wie ein Rädchen in einer Maschine. Aber durch die Gehörlosigkeit habe ich eine Chance bekommen, die ich genutzt habe.

Durch meine Gehörlosigkeit hat sich mein Horizont ganz immens erweitert. Ich fürchte, mein Leben ist nicht lange genug, um alles umzusetzen, was ich möchte. Nichts ist unmöglich, das habe ich gelernt. Ich kann nicht sprechen, oder ich spreche komisch, das ist mir egal. Es gibt so viele Möglichkeiten: ich kann mir eine Stimme kaufen. Ich kann mir das Hören kaufen, es gibt Leute die das tun. Das Leben ist für mich nicht mühsam, sondern spannend. Die Reaktionen der Leute sind interessant.

Freak-Radio: Sie sind also als Gehörlose absichtlich in den Bereich Kommunikation gegangen, um zu zeigen, dass das Unmögliche möglich ist?

Christine Linnartz: Es ist zwar paradox, aber ich sehe es eher als eine Herausforderung. Ich glaube, ich habe die Fähigkeit, mich in Menschen hineinzuversetzen. Ich kann die Dinge mit den Augen der andern Menschen sehen. Ich kann das nicht anders beschreiben. Ich habe eine sehr starke Empathiefähigkeit - und das ist wahnsinnig spannend. Ich lerne sehr viel und entwickle mich dadurch, dass ich andere Menschen sozusagen »verwenden« kann, um durch sie hindurch in die Welt zu schauen. Das heißt, ich werde durch fremde Perspektiven mit erzogen.

Freak-Radio: Welche Entwicklungen oder Brüche waren für Sie prägend?

Christine Linnartz: Brüche oder Barrieren sind für mich Herausforderungen. Man hat zu mir gesagt: "Du willst studieren? Im sprachlichen Bereich, das passt doch überhaupt nicht. Wenn du klug bist, dann musst du zur Technik." Ich habe darauf gesagt, das interessiert mich nicht, ich will mit Menschen zu tun haben. Ich kann ein Studium mit Dolmetscher machen. Aber damals hat es Dolmetscher nicht so selbstverständlich gegeben wie heute. Ich habe mein Studium 1988 begonnen. Damals war das sehr schwierig.

Zuerst habe ich eine Berufsausbildung als Chemielaborantin gemacht. Ich wollte einfach nur den Abschluss haben, damit ich die Fachoberschule Fach-Oberschule besuchen kann. Chemie hat mich im Grunde nicht interessiert. Es gab einen freien Ausbildungsplatz, den hab ich genutzt. Meine Motivation war schlecht, zum Ausgleich bin ich unheimlich viel weggegangen, habe Partys gefeiert und war nicht da.

Die Erlebnisse der praktischen Prüfung haben mich deshalb umso mehr geprägt. Ich habe mir gedacht, ich kann mich nur »durchmogeln«. Aber dann habe ich von hundert Punkten hundert erreicht! Ich wollte es selbst gar nicht glauben. Ich hatte mich selbst unterschätzt. Am selben Tag, an dem ich die Prüfung bestanden hatte, habe ich sofort gekündigt. Meine Eltern haben mir Vorwürfe gemacht: "Wie kannst du diese Chance auslassen?" Ich habe trotzdem das Abitur nachgeholt und dann studiert.

Freak-Radio: Wie haben Sie sich denn die Informationen für diese Prüfung beschafft?

Christine Linnartz: Ich habe das mechanisch gemacht, weil ich es machen musste. Ich war bei einer Behörde in einem chemischen Untersuchungslabor. Viele Kollegen waren wegen Krankheit oder Alkoholismus nicht da und ich musste ihre Arbeit übernehmen. Es gab eine Bibliothek, da konnte man nachschlagen, manchmal habe ich alle möglichen Leute gefragt und mir Feedback geholt.

Freak-Radio: Sie sind von der Chemie in die Kommunikation gegangen. Was war die Hauptmotivation dafür?

Christine Linnartz: Das Unbekannte hat mich gereizt. Woher soll ich wissen, dass ich etwas nicht kann, wenn ich es nicht ausprobiere? Wenn man mir sagt, ich kann es nicht, dann muss ich das überprüfen, darum geht es! Die Grenzen versuche ich immer hinaus zu schieben, ich laufe immer meinen Grenzen nach.

Freak-Radio: Wir haben viel über Ihren Arbeitsalltag gesprochen. Nun gehen wir in die philosophische Richtung. Was bedeutet Arbeit für Sie?

Christine Linnartz: Mein Lebenswerk. Das ist es, wo ich meine Person einbringen kann. Meine Familie und meine Arbeit sind für mich irgendwie in einer Symbiose. Beides zusammen erfüllt mich einfach. Das bin ich!

Freak-Radio: Jedes Kind hat einen Traumberuf. Was wollten Sie werden?

Christine Linnartz: Als ich sechs Jahre alt war, wollte ich unbedingt Schiffskapitän werden und auf dem Meer fahren. Das habe ich mir wunderschön vorgestellt. Ich habe einen Tisch umgedreht und ihn aufs Sofa gestellt und so die Wellen nachgemacht. Dass ich das nicht umsetzen kann, habe ich ziemlich bald verstanden. Da hab ich mich umgestellt und wollte Lehrerin für Gehörlose werden. Meine Lehrer haben nicht gut unterrichtet. Schon als Kind wusste ich, dass ich das besser kann als meine eigenen Lehrer.


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