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Rubrik: Lesen statt Hören
10. Februar 2022

Folge 47: Kunst inklusiv(e): Zu Besuch bei den Künstlerinnen von "Kunst und Drüber"

von Sandra Knopp

Gleich wird bei uns gehäkelt, gemalt, geschüttet, gequillt und getöpfert. Haben Sie schon einmal von Corona-Kugeln, Schüttbildern und Quilling gehört? Darüber erfahren Sie gleich mehr, denn die Protagonistinnen unserer heutigen Episode sind Künstlerinnen und beherrschen viele Techniken. Wir sind zu Besuch in der integrativen Ateliersgemeinschaft „Kunst und Drüber“ in Innsbruck, einer Tagesstruktur in der Frauen mit Lernschwierigkeiten und/oder psychischer Erkrankung künstlerisch arbeiten.

Herzlich Willkommen bei FreakCasters. Am Mikrofon begrüßt Sie Sandra Knopp. Gleich wird bei uns gehäkelt, gemalt, geschüttet, gequillt und getöpfert. Haben Sie schon einmal von Corona-Kugeln, Schüttbildern und Quilling gehört? Darüber erfahren Sie gleich mehr, denn die Protagonistinnen unserer heutigen Episode sind Künstlerinnen und beherrschen viele Techniken. Wir sind zu Besuch in der integrativen Ateliergemeinschaft „Kunst ♀ Drüber“ in Innsbruck, einer Tagesstruktur, in der Frauen mit Lernschwierigkeiten und/oder psychischer Erkrankung künstlerisch arbeiten.

Carmen: Da haben wir ein Projekt gemacht mit vier Jahreszeiten und das sind zum Beispiel die Vasen. Die mit der Raupe drauf ist der Herbst, das ist der Frühling – das Sprießen, das Kantige ist der Winter und das hinten die Sonne. Da kann man hinten auch Pflanzen reintun.

Carmen hat diese Vasen gestaltet, genauer gesagt getöpfert. Carmen, sie möchte nur beim Vornamen genannt werden, hat kurze Haare, trägt an diesem Tag ein schwarzes Kleid. Die Mittfünfzigerin ist die Spezialistin für alles, was aus Ton gemacht werden kann. Sie liebt es, mit diesem Material zu arbeiten.

Carmen: Weil man sich gut ausdrücken kann auch.

Die Tirolerin ist schon seit 2007 bei „Kunst ♀ Drüber“. Sie malt und zeichnet auch gerne, aber ihre Leidenschaft ist das Formen mit den Händen. Das wurde in „Kunst ♀ Drüber“ sehr bald erkannt und fördert. So wurde ein eigener Raum fürs Töpfern eingerichtet. Vor kurzem hat Veronika Prantl, die Leiterin des Projekts, auch eine Töpferscheibe ausgeliehen, was die kreativen Möglichkeiten noch vergrößert. Für Carmen ging damit ein Traum in Erfüllung. Stolz zeigt sie uns ihr „Atelier im Atelier“. In den Holzregalen stehen Vasen, Schüsseln und Schalen. Sofort ins Auge springen handgroße Kugeln mit Zacken. Sie erinnern an jenes Virus, dass unseren Alltag seit zwei Jahren beeinflusst.

Carmen: Die habe ich mit der Hand geformt. Da habe ich so Gipsformen. Da habe ich eine Halbkugel geformt und noch eine Halbkugel. Die habe ich zusammengesetzt mit flüssigem Ton. Dann habe ich die Stifte geformt. Ich würde sagen für eine Corona-Kugel brauche ich eine gute Woche.

Wie lässt sich ein Virus wie Corona bildlich darstellen? Welche Gefühle löst es in der Künstlerin aus?

Carmen: Eine Bedrohung, Einschränkung, Negativ eigentlich

Die mittelgroße Corona-Kugel hat sie daher schwarz glasiert. Aber sie hat auch einige bunte Modelle gestaltet. Mit ihren Kugeln hat Carmen dem unsichtbaren Virus ein Abbild gegeben und es für andere greifbarer gemacht.

Verena: Jede Frau wird angeregt, ihren Stil zu finden. Sie kann verschiedene Materialien ausprobieren, in vielen verschiedenen Techniken sich austoben, in sich reinspüren. Irgendwann kommt der Moment, wo jede Frau ihre Technik findet oder ihre Leidenschaft und sich darin spezialisiert.

Verena Sieber ist eine von vier Mitarbeiterinnen im multiprofessionellen
Team von „Kunst ♀ Drüber“. In dieser Tagesstruktur begleiten sie und ihre Kolleginnen bis zu acht Frauen mit Lernschwierigkeiten und/oder psychischer Erkrankung. In Wien und Innsbruck hat Verena eine Ausbildung zur Mal- und Gestaltungstherapeutin absolviert. Vor fünfzehn Jahren führte sie ein Praktikum ins integrative Atelier. Sie ist geblieben, was insbesondere Carmen sehr freut.

Verena: 2007 habe ich als Praktikantin angefangen und du hast kurz zuvor als Auftraggeberin angefangen, als Künstlerin im Atelier. Carmen: Seitdem sind wir unzertrennlich. (beide lachen) Ja, die Verena strukturiert mich auch sehr gut. Weil, wenn ich mehrere Ideen habe, will ich alles auf einmal machen und sie bremst mich ein bisschen. Sie hilft mir, das besser einzuteilen.

Auftraggeberinnen: So werden in der integrativen Ateliergemeinschaft die Künstlerinnen genannt. Sie sind verschieden alt, haben unterschiedliche Interessen und bekommen individuelle Unterstützung: Was sie eint, ist die Liebe zur Kunst. Diese hat eine unglaublich verbindende Wirkung.

Verena: Wir lernen miteinander, voneinander. Es wird Inklusion einfach gelebt. Wir haben eine totale Vielfalt. Vielfalt ist uns in der Technik wichtig und auch beim Menschlichen. Wir haben alle unsere Fertigkeiten, Fähigkeiten, die hier einfließen dürfen. Alle Frauen, die hier schon waren, haben ihre Spuren hinterlassen und das wird weitergelebt.

„Kunst ♀ Drüber“ ist eines von acht Projekten von TAfIE, dem Tiroler Arbeitskreis für integrative Entwicklung. Der 1993 gegründete Verein unterstützt Menschen mit Behinderung beim Wohnen, Arbeiten, in der Freizeit und Bildung. Menschen mit Behinderung oder einer Erkrankung sollen, wie alle anderen, an der Gesellschaft teilhaben. Das Atelier liegt im Innsbrucker Stadtteil Mariahilf.

Passantinnen und Passanten können im Schaufenster Werke der Künstlerinnen bewundern und vor allem bei Gefallen auch käuflich erwerben. Im Angebot finden sich etwa: Magneten, Schmuck, Wandschmuck, Karten und Bilder, um nur einiges zu nennen. So breit wie das Sortiment sind auch die individuellen Vorlieben und Fähigkeiten der Künstlerinnen. Kunsttherapie, sagt Verena Sieber, kann neue Ausdrucksformen ermöglichen.

Verena: Die Kunsttherapie hat einfach den Riesenvorteil, dass es nicht nur eine Gesprächstherapie ist, wo man miteinander redet, sondern, dass es noch ein drittes Medium gibt, über das man redet. Oft fehlen einem einfach die Worte. Und über die Kunst, egal ob plastisch oder bildnerisch – in welcher Form auch immer - erlebe ich immer wieder, wie man in den Fluss kommt. Und in diesem Flow zu sich kommt. Es muss auch nicht immer gesprochen werden, schon der Prozess an sich hat seine Wirkung und geht in das Innere. Es ist schön zu beobachten, in jeder einzelnen Form, wie die Frauen in ihrem Stil, in ihrer Technik zu ihrem Inneren kommen und das auch leben können.

Carmen erzählt, dass sie eine psychische Erkrankung hat. Dreimal pro Woche ist sie bei „Kunst ♀ Drüber“, was ihr Stabilität, Sicherheit und Beständigkeit gibt. Ursprünglich kommt sie aus dem Tiroler Oberland, daher komme ihr unverkennbarer Dialekt, den sie sich auch in Innsbruck beibehalten habe, sagt Carmen. Die Liebe zur Kunst begleitet sie seit langem.

Carmen: Ich habe nach der Matura auf der Kunstakademie in Salzburg einmal die Aufnahmeprüfung gemacht, bin aber nicht reingekommen. Ich hatte psychische Schwankungen gekriegt und es hat mich total hineingerissen. Aber ich mich schon interessiert.

Mit Kunst kann sie ihre Gefühle ausdrücken. Dazu zählt die Arbeit an Schüttbildern, die ebenfalls im Atelier ausgestellt sind. Dabei werden, wie es der Name verrät, mehrere Farben übereinander geschüttet. Sie vereinigen sich zu einem Kunstwerk.

Carmen: Ich würde sagen ein emotionaler Ausdruck, eine Farbkomposition. Ich schaue, dass die Farben zusammenpassen und ineinanderfließen. Jeder sieht was anderes. Das ist dem Zufall überlassen.

Mit Grauen erinnert sich Carmen an den 1. Lockdown im Jahr 2020, als sie wochenlang gar nicht ins Atelier kommen konnte. Die Mitarbeiterinnen von „Kunst ♀ Drüber“, auch Begleiterinnen genannt, blieben zwar mit den Künstlerinnen über Videotelefonie und Briefe in Kontakt. Aber die Gemeinschaft fehlte ihr. Umso schöner war es, als sie just an ihrem Geburtstag endlich wieder ins Atelier durfte. In dieser Zeit, als sich das Atelier nach und nach wieder mit Leben füllte, entstanden durchaus „explosive“ Bildkreationen, wie sie erzählt.

Carmen: Ja, ich habe ziemlich viel geschüttet. Das Atelier war leer und ich brauchte einen großen Tisch. Es sind einzelne Gänge. Die Farben werden nicht übereinander geschüttet, sondern die müssen trocknen, dann mit der nächsten Farbe drüber. So ein Schüttbild dauert eigentlich drei, vier Tage.

Das Engagement von „Kunst ♀ Drüber“ endet nicht bei Malen, Töpfern, Zeichnen oder Gestalten. Ziel ist eine kontinuierliche Begleitung, die viele Lebensbereiche umfasst, erklärt Mitarbeiterin Verena Sieber.

Verena: Man darf auch nicht vergessen, dass wir Mitarbeiterinnen die Auftraggeberinnen in vielen Lebenslagen begleiten. Zu vielen verschieden Themen: von finanziellen bis zu familiären Themen. Zukunftsthemen, berufliche Themen. Das gehört alles zu unserem Alltag dazu. Wir haben das Glück, dass wir multiprofessionell sind und hier eine Vielfalt ist.

Die Gespräche haben wir vor dem 4. Lockdown im Herbst aufgenommen. Ausgerüstet mit Maske, Desinfektionsmittel und CO sind wir nach Innsbruck gefahren und haben unter Einhaltung der Sicherheitsbedingungen mit den Teilnehmerinnen gesprochen. Aktuell ist die Situation so, dass die Künstlerinnen trotz der hohen Fallzahlen in der Omikron-Welle vor Ort arbeiten können. Das geht aber nur mit FFP2 Maske und regelmäßigen Tests. Was eindeutig fehlt, ist die Möglichkeit die künstlerischen Produkte auf Märkten, Messen und Bällen zu zeigen. Der TAfIE-Ball ist heuer schon zum zweiten Mal coronabedingt abgesagt worden. Begleiterinnen und Teilnehmerinnen sind froh, überhaupt vor Ort sein zu können. Carmen erzählt uns, wie ein Tag im Atelier vor Corona ablief.

Carmen: Wir kommen an zwischen 09:00 und 09:15 und dann haben wir Morgenrunde, trinken Café und besprechen, was jede von uns beschäftigt und an was wir arbeiten, unter dem Tag. Meistens zwischen 09:30 und 09:45 fangen wir an zum Arbeiten.

Danach essen alle gemeinsam zu Mittag, bevor wieder gewerkt wird. Um 14:15 gehen die Künstlerinnen nach Hause.

Carmen: Die Zeit ist manchmal fast ein bisserl zu kurz. Wir machen alles selbst, wir putzen und kochen selber. Jeder kommt einmal in der Woche dran: wir spülen ab. Wenn ich dran bin, geht mir die Zeit nachher ab zum Arbeiten. (Lacht.)

Während wir im Eingangsbereich sitzen und plaudern, bekommen wir Besuch. Eine zierliche ältere Frau mit kurzen grauen Haaren nähert sich und blickt neugierig auf das Mikrofon. Agnes, sie ist über 80, ist eine der Künstlerinnen.

Verena: Ich habe Besuch bekommen von einer weiteren herausragenden Künstlerin, die Agnes ist unsere älteste Künstlerin. Sie hat einen Wiedererkennungswert. Wir sagen oft, sie ist eine Prozesskünstlerin. Wenn sie im Prozess ist, ist sie voll dabei, es kann aber auch sein, dass, wenn man wegschaut, das Werk weg ist. (Lacht.) Zerstört wurde. Dass sich das immer weiterentwickelt und das darf auch wieder gehen.

„Kunst und Drüber“ ist eine Tagesstruktur. Es geht darum, Frauen im Rahmen einer sinnstiftenden Beschäftigung auf ihre Stärken und Fähigkeiten aufmerksam zu machen, sie darin zu unterstützen, in ihrer Entwicklung zu fördern bzw. vorhandene Fähigkeiten zu erhalten und ihr Selbstbewusstsein zu stärken.

Carmen: Kunst ♀ Drüber macht auch aus, dass Klientinnen mit verschiedenen Diagnosen da sind. Das ergänzt sich gut, als wenn nur Menschen mit psychischer Erkrankung da sind. Das lockert sich oder stützt sich. Verena: Durch diese Vielfältigkeit, wie es die Carmen gesagt hat, durch die verschiedenen Diagnosen, kommt jede dazu, dass ihre Fähigkeiten hier Platz haben und es ein Geben und Nehmen ist. Jemand, der dort gerade eine Schwäche hat, profitiert von der anderen, die dort eine Stärke hat und umgekehrt.

Immer wieder gibt Carmen den anderen gerne Tipps, wenn sie mit Ton arbeiten möchten. Die Künstlerinnen, von denen einige schon viele Jahre dabei sind und die Begleiterinnen sind zu einer Gemeinschaft geworden. Das Arbeitsumfeld ist kollegial, man ist untereinander per du.

Carmen: Für mich ist das soziale Netzwerk total wichtig. Es bilden sich Freundschaften, wir unternehmen ab und zu privat etwas. Mir sind die Kontakte zu den Begleiterinnen wichtig. Es ist in dem Projekt einzigartig, dass man so individuell betreut wird und das passiert auf Augenhöhe. Das ist total schön.

Manchmal ist der Name „Kunst UND DRÜBER“ aber auch Programm.

Carmen: Es geht manchmal drunter und drüber (lacht.) Verena: wie heute (Lacht.) Ich glaube, das ist einfach selbstverständlich, weil wir alle extreme Persönlichkeiten sind, extreme Charaktere. (Lacht.)

Zum Abschluss dieser Folge möchten wir noch auflösen, was es mit Quilling auf sich hat: Es ist eine alte Kunstform, die derzeit wieder voll im Trend liegt. Dabei werden Papierstreifen gerollt, geformt und kunstvoll zusammengeklebt. Eine Quilling-Meisterin ist die 63-jährige Uschi. Sie hat für „Kunst ♀ Drüber“ schon ein Eulenmobile und eine Amsel mit Nest gestaltet.

Verena: Die Uschi ist unsere Quilling-Künstlerin. Uschi: Das ist meine Amsel.

Sandra: Wow. Wie lange braucht man für sowas? Uschi: Wie lange habe ich jetzt gebraucht? Verena: eine gute Woche, oder zwei Wochen. Fürs Amsel-Nest auch, oder? Verena: Du bist sehr intensiv daran gewesen. Nach dem ersten Lockdown haben wir die Technik angefangen und die Uschi hat am meisten mit den Quilling-Streifen gearbeitet. Uschi: Den Blumenvorhang habe ich gemacht. Sandra: Ist das eine schwere Technik? Uschi: es geht so, gell? Verenas Kollegin: Man muss Geduld haben und schon das Feingefühl. Uschi: Ich möchte die Amsel einrahmen, wenn die trocken ist.

Fürs Quilling braucht Uschi Fingerspitzengefühl und Geduld. Fähigkeiten, die sie mit Handarbeiten trainiert und erhält. Ihre Leidenschaft und Kreativität geben die Künstlerinnen an ihr Umfeld weiter.

Verena: Jedes Mal, wenn ich ins Atelier komme, erwarten mich neue Herausforderungen. Es ist ein wunderbarer Austausch. Wir inspirieren uns gegenseitig. Auch ich werde inspiriert von der Arbeit und wie die Frauen mit Materialien und Gegebenheiten umgehen. Es regt einfach an, etwas zu tun, sich selbst künstlerisch auszudrücken, im Ausdruck zu bleiben und sich weiterzuentwickeln.

Abmoderation: Das war doch ein schönes Schlusswort. Bei FreakCasters hatten wir schon öfters Gäste mit Behinderung, die sich künstlerisch betätigen und ausdrücken. So etwa die Künstlerin und Unternehmerin Tina Hötzendorfer, den Posaunisten Martin Ortner oder die Lego-Oma Rita Eberl. Diese Episoden stehen auf freakcasters.simplecast.com zum Nachhören bereit. Wenn Ihnen dieser Podcast gefallen hat, abonnieren Sie uns doch auf einer der gängigen Plattformen google podcasts, itunes oder spotify. Und empfehlen Sie uns weiter. Wer uns einen Themenvorschlag schicken möchte, gerne via E-Mail an: freakcasters(at)gmx.at Auf Wiederhören und bis zum nächsten Mal, sagt Sandra Knopp.


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