Seitenanfang:

Link zum InhaltLink zum MenüLink zur Suche

Inhalt:

Rubrik: Freak Aktuell
30. April 2010

„Es war an der Zeit, wieder etwas Neues zu machen“

von Margarete Endl und Sandra Knopp

Dorothea Brozek ist die Grande Dame der österreichischen Selbstbestimmt Leben-Bewegung. Porträt einer Kämpferin

Dorothea Brozek, in einem elektrischen Rollstuhl sitzend. Sie trägt einen orangen Pullover.

Quelle: com_unit

Dorothea Brozeks persönliche Assistentin serviert ein grünes Getränk. So grün wie Gras oder die Blätter eines Baumes. „Das ist Wasser mit reinem Chlorophyll“, sagt Dorothea Brozek. Strahlend, und ein bisschen verschmitzt. „Schmeckt es Ihnen?“ Es schmeckt nach gesund. „Ganzheitliche Gesundheit ist ein wichtiges Thema für mich“, sagt sie. „Das Chlorophyllgetränk ist derzeit in Österreich, Deutschland und der Schweiz erhältlich. Jetzt gehen wir in die Türkei, nach Polen, nach Dänemark und Schweden. Wir wollen ganz Europa versorgen.“

Im Februar 2002 gründete Brozek, gemeinsam mit anderen, die WAG, die Wiener Assistenzgenossenschaft. Bis Februar 2009 leitete sie auch das Unternehmen. Nun ist Brozek in den Aufsichtsrat gewechselt und hat die Geschäftsführung abgegeben. Weil sie wieder einmal etwas anderes machen wollte. „Es war an der Zeit, mein Leben in eine andere Richtung zu bewegen.“

Protest gegen unwillige Busfahrer

Die Richtungen, die Brozek bisher eingeschlagen hat, waren von äußerlichen Notwendigkeiten und einem inneren Feuer getrieben. Etwa, wenn sie sich mit ihrem elektrischen Rollstuhl wieder einmal vor einen städtischen Bus schob und den Busfahrer am Weiterfahren hinderte. Weil er sie nicht mitnehmen wollte. Weil er zu bequem war, eine Rampe auszuklappen. Das war so um 2001. Dabei hatte sie sich so gefreut, als im Jahr davor die Wiener Linien endlich ihre Busse mit Klapprampen ausgestattet hatten. Doch viele Busfahrer weigerten sich, die Rampen auszuklappen. Sie hatten alle möglichen Ausreden: „Ich habe keinen Schlüssel!“ Oder: „Die Klappe ist kaputt.“ Oder die Busfahrer ließen sie offen spüren, dass sie unwillkommen war. Sie öffneten die Klapprampe aus einem Meter Höhe und staubten Brozek von oben bis unten ein.

So stellte sie sich also mit ihrem Rollstuhl vor den Bus und schrieb nachher Beschwerdebriefe an die Wiener Linien und an den Bundespräsidenten. Das wirksamste Mittel aber waren meist die Medien. Der „Standard“ schrieb im August 2001 über ihre Busfahrer-Kämpfe. Dann kamen wieder Vertreter der Wiener Linien zu ihr und entschuldigten sich für das Verhalten der Fahrer.

Ihre Proteste haben tatsächlich etwas bewirkt. Aufgrund der Beschwerden untersuchten das Kuratorium für Verkehrssicherheit und die Wiener Linien die Situation von rollstuhlfahrenden Fahrgästen. Seither hat Brozek bei den Wiener Linien etliche Sensibilitätstrainings für Busfahrer geleitet.

Studium als Hindernisparcours

Vielleicht ist Dorothea Brozek von Natur aus eine Kämpferin. Sicher jedoch haben ihre Lebensumstände sie so erzürnt, dass sie eine wurde. Sie wurde zudem zu einer Zeit erwachsen, als die Selbstbestimmt Leben-Bewegung weltweit erstarkte.

Brozek absolvierte eine Handelsakademie in Wiener Neustadt und studierte anschließend an der Universität Wien Slawistik und Politikwissenschaft. Das war ein Hindernisparcours. Die Institute waren in alten Unigebäuden ohne Lifte. Brozek musste Kollegen und Kolleginnen bitten, sie die Stiegen hochzutragen, oder sie musste Hilfe organisieren und bezahlen. Auf der Uni musste sie deshalb einen mechanischen Rollstuhl benutzen, weil er leichter zu tragen war. Seit ihrem ersten Lebensjahr hat Brozek eine Muskelerkrankung und benutzt meist einen elektrischen Rollstuhl. Aus Frust über die Verhältnisse an der Uni hat sie das ÖH-Behindertenreferat mitbegründet.

Gegen Ende ihres Studiums erkrankte ihre Mutter und konnte ihr nicht mehr so viel Hilfe wie bisher geben. So begann ein neuer Kampf, diesmal um persönliche Assistenz und ihre Finanzierung. Sie hat ihre individuellen Bedürfnisse mit der Gemeinde Wien gut verhandelt. Doch dann ergab sich im Jahr 2000 die Möglichkeit, persönliche Assistenz als Institution zu verankern. Die Regierung hatte eine Milliarde Schilling in Aussicht gestellt, um Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen zu schaffen. Wenn das wirklich ernst gemeint war, müssten sie sich daran unbedingt beteiligen, dachten sie und ihre MitstreiterInnen von der Selbstbestimmt Leben-Initiative Wien „Wir waren eine Gruppe von behinderten Frauen und Männern, die auf Unterstützung angewiesen waren. Wir alle mussten schauen, dass wir nicht in ein Heim kommen.“ Die Gruppe begann mit der Planung, eine Serviceeinrichtung für Persönliche Assistenz zu gründen und die Finanzierung sicherzustellen. Daraus entstand die Wiener Assistenzgenossenschaft.

Ich bin so, wie ich bin

Nun hat Dorothea Brozek wieder ein Unternehmen gegründet, diesmal ein eigenes. Es trägt den bezeichnenden Namen Brozek Powers. Frau Brozek bietet Training, Coaching, Supervision und Beratung über ganzheitliche Gesundheit und Existenzförderung. Auf eine gewisse Weise kommt sie damit zu ihrem ureigensten Thema zurück: zum selbstbestimmten Leben. Etwas, das sie für sich reklamiert hat und anderen ermöglichen möchte. Mit ihrer eigenen Situation hat sie sich intensiv auseinandergesetzt. Unterstützung möchte sie auch jenen Menschen geben, die durch einen Unfall in ein neues Leben mit einer Behinderung geraten sind. „Da braucht es eine längere Zeit und viele Reflexionen, bis sich das Denken verändert. Bis man bereit ist, hinauszugehen und zu sagen: Ich bin mit meiner Behinderung, so wie ich bin, ich akzeptiere die Grenzen, die mir meine Behinderung setzt, ich nehme mein neues Leben an und mache das alles zu einer Stärke. Und ich nehme mir das Recht heraus, Rechte einzufordern und zu verlangen.“

Und was wäre, wenn? Wenn sie noch einmal 19 wäre, wenn ihr die politischen Rahmenbedingungen jede Studienoption erlauben würden? „Ich hätte viel lieber Mode studiert, als mit Politikern zu streiten“, lacht sie. Doch die, die sie heute ist, ist sie gerade durch den Streit geworden, durch den Kampf, durch das Engagement. Und flippige Sachen trägt sie ohnehin, auch ohne Mode studiert zu haben. Etwa einen orangen Pulli zu einer grünen Samthose.

Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projektes "Lebens- und Arbeitswelten" erschienen.


Link speichern auf:addthis.comFacebookYiggItMister Wongstumbleupon.comdel.icio.usMa.gnoliaask.comdigg.comTechnoratiYahooMyWeblive.com
Seitenanfang