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Rubrik: Freak Aktuell
06. Dezember 2008

Behinderung als wissenschaftliche Disziplin – Disability Studies

von Alexandre Laloux

Wenn es um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrer Beeinträchtigung geht, wollen Menschen mit Behinderung nicht als bloße Forschungsobjekte gesehen werden. Jene, die Aufgrund ihrer Abnormität im Mittelpunkt meist medizinischer Forschung standen, drehen den Spieß jetzt um. 'Disability Studies' nennt sich die - hierzulande recht junge - Disziplin, die sich mit den verschiedenen Aspekten von Behinderung befasst.

Reagenzglas mit roter Flüssigkeit

copyright: Rolf van Melis/www.pixelio.de

Heuer feiert die 68er Generation und ihre Errungenschaften einen runden Geburtstag. Ob die durch den 'selbstbestimmt Leben' Aktivismus geprägte Wissenschaft eine ähnliche Entwicklung im neuen Jahrtausend schafft, bleibt abzuwarten.

Der Vergleich zwischen gender- und feministischen Studien und jenen der "selbstbestimmt Leben" Bewegung darf durchaus gezogen werden, geht es bei Letzteren doch auch um die Gleichstellung einer gesellschaftlich heterogenen Gruppe auf allen Lebensebenen.

Eine Wissenschaft der Praxis

Die Disability Studies (Studien über Behinderung) haben in Ländern wie den USA und Großbritannien schon ein viertel Jahrhundert Tradition. Ausgehend vom Empowerment-Ansatz der 1980er Jahre, der Menschen mit Behinderung zu mehr Autonomie brachte, sollte eine praxisnahe Wissenschaft etabliert werden, bei der Betroffene selbst zu Themen forschen, die sie aufgrund ihrer eigenen Lebensrealität am besten verstehen.

Gerechtigkeit besteht darin, dass jeder das Seine tut' (Platon)

Ein wichtiges Messgerät dafür, wo sich eine Gesellschaft im Hinblick auf bestimmte Themen befindet, ist die Wissenschaft. Sofern es der Gesellschaft etwas wert ist, in ein Thema hinein zu forschen, bedeutet dies, dass nun diesem Thema mehr öffentliche Aufmerksamkeit und dadurch mehr Geld, mehr Ansehen etc. zukommt.

Der Arbeitsmarkt in Österreich

Expertin Dr. Ursula Naue sieht in den Disability Studies auch eine Chance, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Sie wünscht sich, dass es künftig mehr Forscherinnen und Forscher gibt, die selbst eine Behinderung haben und aktiv am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen.

Der Schlüssel dazu liegt nach Meinung von Dr. Naue in den Bildungschancen. Nur wenn behinderte Menschen die Chance bekommen, selbst zu studieren, können aus ihnen auch WissenschaftlerInnen werden. Dazu braucht es Universitäten ohne Barrieren, meint die Politologin.

Disability Studies ist eine wissenschaftliche Forschung die auf den Lebenserfahrungen von Menschen mit Behinderungen aufbaut. Dies bedeutet jedoch einen radikalen Paradigmenwechsel - also eine totale Änderung der Sicht auf behinderte Menschen.

Putting Disability Studies into action

Die Disziplin sei momentan sehr "verwissenschaftlicht", so Naue. In den USA gebe es allerdings Gegenbestrebungen. Der Wortlaut sei dort: "putting Disability Studies into action". Disability Studies sollen anwendbar und für alle behinderten Menschen sinnvoll einsetzbar sein.

Praktische Forschung an Beispielen

Persönliche Assistenz gibt behinderten Menschen jene Hilfestellungen die ihnen ermöglichen, ihr Leben nach ihren eigenen Bedürfnissen zu gestalten.

Wenn in Österreich über Persönliche Assistenz geforscht wird, gibt es, laut Ursula Naue bei vielen Leuten, die mit der Einführung und Umsetzung persönlicher Assistenz in Österreich betraut sind, Unverständnis. Die Vorstellungen davon, was Persönliche Assistenz für Betroffene bedeutet, seien zum Teil haarsträubend.

In Skandinavien wurde hingegen gezeigt, dass unter anderem mit wissenschaftlich gewonnenen Daten der Forschung über die Bedürfnisse und Bedeutung von persönlicher Assistenz die landläufige Meinung verändert wird. "Positive Beispiele" alleine würden jedoch nicht reichen. Es müssten Daten im eigenen Land gewonnen werden’, fordert Dr. Naue. Keine reinen Zahlengebilde, sondern die Bedeutung der Konzepte für die Betroffenen seien relevant. Gesetze können darauf hin entworfen und geändert werden.

Utopie in Österreich

Forschung rentiert sich erst nach vielen Jahren. Wenn behinderte Menschen in der Wissenschaft nicht nur mitarbeiten, sondern selbst forschen und so ihre Leistung erbringen, gibt dies Vorbildwirkung für andere Berufsgruppen. Stichwort Kündigungsschutz von Menschen mit Behinderung.

Kletten in der Wirtschaft?

Der Kündigungsschutz vermittelt oft ein negatives Bild von ArbeitnehmerInnen mit Behinderung. Es mangelt oft am Willen der Wirtschaftstreibenden. Die Ausgleichstaxe sei so niedrig, dass es schon lächerlich sei, so Ursula Naue zu einem generellen Trend, behinderte Mitarbeiter im Betrieb zu vermeiden. Diese Ausgleichstaxe fällt an, wenn pro 25 Mitarbeiter, nicht ein sogenannter "begünstigter Behinderter" eingestellt wird.

Eine österreichische Situation

Die Disability Studies könnten in Österreich als best practice Beispiel dafür dienen, dass Menschen mit Behinderung in einer normalen Arbeitsumgebung zeigen, dass ihre Arbeit – mal gut mal schlecht verläuft – sowie die, der „Nichtbehinderten“. Letztendlich werden die geforderten Leistungen erbracht. Es gab vor kurzem Versuche, die Disability Studies an österreichischen Universitäten zu etablieren, was aber bislang noch nicht fruchtet.

Die Disability Studies müssen sich hierzulande erst als Wissenschaft legitimieren und danach etablieren, sodass sie Vorbildwirkung ausüben können.

Die zur Zeit Forschenden nähern sich aus verschiedenen Disziplinen, aber ohne "feste Basis" jenen Gebieten, aus denen künftig ein eigener Forschungszweig entstehen soll.

(K)eine Tradition

Ursula Naue meint zu der kurzen Tradition der Disziplin in Österreich, dass dies als ein Vorteil gesehen werden kann. Die hoch verwissenschaftlichte Diskussion welche auf internationalem Terrain stattfindet, ist in Österreich kaum vorhanden. Es kann von außen beobachtet und damit gearbeitet werden, bis die Überzeugungsarbeit geleistet ist, um die Disability Studies – die Wissenschaft über Behinderung – auch in Österreich zu etablieren.

Als Grundlage für diesen Artikel diente ein Gespräch mit Dr. Ursula Naue, Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie ist in Arbeitskreisen zum Thema Disability Studies involviert und lieferte mit Ihrer Dissertation einen nennenswerten Beitrag zum Voranschreiten dieser Disziplin.


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