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Rubrik: Lesen statt Hören
12. Dezember 2004

Alltag & Hilfsbedürftigkeit

von Peter Singer

Was ist damit verbunden, woran denkt man gleich, woran denken viele nicht? Was bedeutet überhaupt "Hilfsbedürftigkeit"? Darüber gibt der selbst betroffene Dr. Peter Singer heute Auskunft.

Ein Mann mit Behinderung sitzt am Schreibtisch und drückt eine Taste

Peter Singer an seinem Schreibtisch (2003)

Moderator, Peter Singer: Guten Abend, sehr geehrte Hörerinnen und Hörer bei einer "Freak Radio"-Sendung zum Thema "Alltag & Hilfsbedürftigkeit", gestaltet von Peter Singer.
Als Sprecher hören Sie heute Lore und Roderich Zimmermann.

Musik

Sprecherin: Alltag - was ist das eigentlich?

Sprecher: Vereinfacht lässt sich sagen: Es ist das jener Zeitraum, in dem der Mensch alles das tut, was normal seine Pflichten sind.

Sprecherin: In meiner Sendung "Freizeit - freie Zeit" habe ich einzelne dieser Aufgaben schon aufgezählt. Zur Erinnerung daran seien einige davon wiederholt:

Sprecher:

» Schule besuchen,
» Aufgabe schreiben,
» Beruf ausüben,
» Haushalt führen,
» Kinder großziehen, etc.

Sprecherin: Und in der Regel erklären sich diese Angelegenheiten von selbst, d.h. für viele bedarf es hier bestimmt keiner weiteren Ausführungen.

Musik

Sprecher: Heute sollen aber gerade diese Tätigkeiten einmal etwas genauer hinterfragt werden. Und zwar dies deshalb, weil mit ihnen oftmals Dinge verbunden sind, an die normalerweise gar nicht gedacht wird.

Sprecherin: Und das wiederum erzeugt dann ein Unverständnis denen gegenüber, die aufgrund einer körperlichen Behinderung vieles eben nicht so durchführen können, wie das für andere obligat ist.

Sprecher: Bleibt man dazu nochmals kurz bei dem Beispiel »Schulbesuch«, so verstehen hier sicherlich die Meisten darunter, dass ein Kind

» zur Schule fährt,
» das Schulhaus betritt,
» ins Klassenzimmer geht,
» den Lehrstoff aufnimmt,
» seine Arbeiten schreibt,
» Prüfungen ablegt, etc.

Sprecherin: Bei dieser Aufzählung gehen aber bereits alle jene Bewegungsabläufe verloren, die ein Kind noch macht, bevor es den Schulweg antritt.
Nämlich, dass es

» in der Früh die Augen aufschlägt,
» das Bett verlässt,
» die Toilette vornimmt,
» sich anzieht,
» das Frühstück isst,
» das Haus verlässt.

Sprecher: Nun werden viele sagen, dass da ja gar nichts Besonderes dran ist, und es deshalb auch keiner speziellen Erwähnung bedarf.

Sprecherin: Für Menschen mit Behinderung ist aber dieser Ablauf unter Umständen gar nicht so simpel, wie er hier gerade dargestellt worden ist. Und darauf möchte ich nach der nächsten Musikeinspielung etwas genauer eingehen.

Musik

Sprecher: Dazu nun eine kurze Darstellung, wie sich bei mir der Einstieg in das Tagesgeschehen zu Schulzeiten so abgespielt hat:

Sprecherin: Die Augen - um bei der Aufzählung von vorhin zu bleiben - mussten mir zwar nicht geöffnet werden, denn das konnte ich schon noch alleine tun. Leide ich doch nicht an einer solchen Behinderung, wo mir selbst das nicht von alleine möglich gewesen wäre.

Sprecher: Doch bereits beim Verlassen des Bettes gab's die ersten Probleme: Ich konnte es nicht aus dem eigenen Vermögen heraus tun, sondern meine Mutter bzw. mein Vater mussten mich aus dem Bett holen, weil's mit dem selbständigen Gehen damals noch nicht klappte.

Sprecherin: Dazu kam, dass ich in meiner späteren Kindheit Nachtschienen zu tragen hatte. Sie mussten mir erst ausgezogen werden. Dabei waren es aber keine modernen Klettverschlüsse, wie sie heute obligat sind, sondern handelte es sich um Bandagen, die erst umständlich herunterzuwickeln waren.

Sprecher: Beim Frühstücken konnte ich dann zwar schon alleine auf einem Sessel sitzen. Doch der Tee bzw. der Kakao und das Brot, der Kuchen oder die Semmel, diese Sachen mussten mir bereits wieder gefüttert und das Trinkgefäß an den Mund gehalten werden.

Sprecherin: Beim Waschen und beim Ankleiden gab es die gleiche Unselbständigkeit. Zu allem Überdruss hatte man mir dann auch noch Beinschienen für den Tag verordnet. Ihr Anlegen war stets ein Problem, weil's hier etliches zu verschnüren gab.

Sprecher: Wenn mich dann mein Vater huckepack zum Schulbus brachte, war freilich für kaum jemanden ersichtlich, was da bis zu diesem Zeitpunkt von meinen Eltern schon alles für mich hatte getan werden müssen.

Musik

Sprecherin: Wurden alle diese Pflegeleistungen von meinen Eltern noch bis in deren hohes Alter selbst erbracht, so waren es ab dem Zeitpunkt, wo sie es selbst nicht mehr konnten, die Heimhelferinnen, die das taten.

Sprecher: Und jetzt, wo weder mein Vater noch meine Mutter mehr am Leben ist, sind es diese sowieso, die regelmäßig ihren Dienst bei mir versehen.

Sprecherin: Denn wenngleich ich heute selbst fest im Leben stehe, auf eine abgeschlossene Hochschulausbildung zurückblicken kann, bei »Freak-Radio« immer wieder meine Beiträge liefere und trotz aufoktroyierter Berufslosigkeit (Freak-Radio brachte ja zum Thema »Waisenrenrente und Berufsverbot« schonmals eine eigene Sendung) ehrenamtlich in der einen oder anderen Weise aktiv bin, so hat sich an meiner Behinderung nichts geändert.

Sprecher: D.h. nach wie vor bin ich darauf angewiesen, dass man mir bei

» der Körperpflege,
» dem Zurechtrichten der Zahnbürste,
» dem Ankleiden,
» der Nahrungsaufnahme,
» dem Anlegen der Beinschienen und des Mieders,
» der Besorgung meines Haushalts,
» der Erledigung des Einkaufs,
» der Reinigung meiner Wohnung - und vielem mehr

hilft.

Musik

Sprecherin: So sehr diese eben gebrachte Schilderung ziemlich persönlich gehalten war, so sehr sollte damit bloß einmal dokumentiert werden, dass das Behindertsein eines Menschen oftmals ganz woanders beginnt, als hinlänglich angenommen wird.

Sprecher: Und dabei ist es dann wiederum wichtig, danach zu fragen, welcher Art von Hilfe es eigentlich bedarf, damit ein Mensch mit einem bestimmten Leiden oder Gebrechen nicht total auf der Strecke bleibt.

Sprecherin: Denn so schön es sicherlich ist, wenn man heute als Mensch im Rollstuhl, mit Krücken, mit einem weißen Stock, mit Hörgeräten, mit abstrusen Bewegungen oder irgend einem anderen Leiden nicht mehr ganz so angeschaut wird, als käme man von einem anderen Stern, so hilft das herzlich wenig, wenn nicht - zumindest für einen kleinen Augenblick lang!! - auch darüber nachgedacht wird, was da an Problemhaftem mit einer bestimmten Behinderung eigentlich verbunden sein kann.

Sprecher: Dieses Denken sollte dann auf schlechthin alle Fähigkeiten bezogen werden, die ein Mensch im Rahmen seiner Entwicklung und seiner Lebensge-staltung einfach entfalten muss, um sowohl seine grundlegenden Bedürfnisse als auch höher gesteckten Ansprüche schließlich befriedigen zu können.

Sprecherin: In meiner Dissertation »Über das Behindertsein des Menschen vor dem Hintergrund der eigenen Denkweise und Erfahrung« (erschienen im WUV-Universitätsverlag, Wien 2003) habe ich diese Fähigkeiten »Elementarvoraussetzungen« genannt und damit gemeint, dass kaum eine Alltagsverrichtung nur von einer einzelnen Körperaktivität bewerkstelligt wird, sondern dass da stets mehrere Bewegungsabläufe zusammenspielen.

Sprecher: Nimmt man dazu etwa das Beispiel »Autofahren« her, so geht es dabei ja nicht nur darum, dass jemand hinter dem Lenkrad sitzt und es dreht, sondern dass hier viele weitere Fähigkeiten gefragt sind wie etwa

» das Schauen,
» das Erkennen,
» das Hören,
» das Reagieren,
» das Treten der Pedale,
» das Betätigen einzelner Hebel und Knöpfe, etc.

Sprecherin: Und genau dieses Zergliedern gesamter Bewegungsabläufe in die jeweils einzelnen Aktivitäten
» der Hände,
» der Füsse,
» der Augen,
» der Ohren,
» des Rumpfes,
» des Geistes,
» der Seele

ist es, vor deren Hintergrund erst so richtig verstanden werden kann, was menschliches Agieren und Reagieren eigentlich ist, und vor welchen Problemen da jemand stehen kann, wenn er von einer Behinderung betroffen ist.

Sprecher: Damit sollte es schließlich nicht schwer sein, zu begreifen, dass erstens

» eine Behinderung kein einheitlicher Zustand von
Unfähigkeit ist, sondern stets davon abhängt,
welche Funktionen und Körperteile davon eigent lich betroffen sind,
» Hilfsbedürftigkeit niemals als ein alles umfassendes Begehren um Beistand fehlinterpretiert werden darf,
» bzw. sich Hilfeersuchen oftmals nur auf einzelne und ganz konkrete Bedürfnisse beziehen.

Sprecherin: Zweitens kann dann daran auch ermessen werden, was Eltern und Anverwandte eigentlich leisten, wenn

» sie sich der Pflege und Förderung ihrer behinderten Kinder stellen, anstatt diese Verpflichtung irgendwelchen öffentlichen Einrichtungen zu übertragen,
» ihre behinderten Familienmitglieder nicht einfach deren unausweichlichen Schicksal überlas sen, sondern doch im Rahmen des Möglichen hier noch eine gewisse Hilfe bzw. einen bestimmten Beistand leisten.

Sprecher: Und drittens lässt sich damit auch der Wert ermessen, den die öffentliche (d.h. oftmals privatwirtschaftlich organisierte) Betreuung mit ihren einzelnen Angeboten wie Heimhilfe, Pflegedienst, Essen auf Rädern etc. leistet!
Ist sie es doch, die häufig jemanden davor bewahrt, nach dorthin abgeschoben zu werden, wo ihm/ihr dann nur noch ein Bett, ein Kasten und ein Platz im Aufenthaltsraum gehört.

Sprecherin: Denn so wenig gerade mit dem zuletzt Gesagten hier bestimmten öffentlichen Einrichtungen das Wasser abgegraben werden sollte, so wenig ist ebenso zu übersehen,

» dass Heimunterbringung nur die allerletzte Al ternative zum Leben in den eigenen vier Wänden sein kann,
» dass Hilfsbedürftigkeit bei realistischem Er kennen und Hinterfragen sich oftmals nur als
»Klacks« herausstellt,
» und vom finanziellen Aufwand her ganz klar ist, dass die Pflege und Unterstützung von Menschen mit Behinderung auf ambulanter Basis überdies
für die Öffentlichkeit weit wirtschaftlicher ist, als wenn man diesen Personenkreis, um den es hier geht, nur in Großinstitutionen »verwahrte«.

Sprecher: Kleine Zusatzbemerkung noch zum Schluss:

» Hilfsbedürftigkeit schafft auch Arbeitsplätze für Helfer!
» Als Mensch mit Behinderung im Alltag in be stimmten Belangen hilfsbedürftig zu sein, be deutet nicht auch schon den totalen persönli chen Untergang!
» Und außerdem:

Gibt es wirklich den Menschen, der tatsächlich niemals der Hilfe anderer bedarf?

Musik

Moderator, Peter Singer: Damit sind wir am Ende der heutigen Sendung angelangt. Am Dienstag, dem 14.Dezember hören Sie bereits ab 20.00 Uhr - vor der Wiederholung dieser Sendung - ein »Freak-Classik« mit dem Titel »U-Bahn-Verlängerung in Wien - Maßnahmen für behinderte Menschen«.

Nächste Woche hören Sie als Fortsetzung des heutigen Themas eine Diskussionssendung. Gerhard Wagner fragt dann seine Gäste: Wie bekomme ich die Unterstützung, die ich brauche?
Wie immer am Sonntag und Dienstag um 20.30 Uhr.

Ich danke dem ganzen Sendungsteam, am Mikrofon verabschiedet sich Peter Singer.

Diese Sendung können Sie auch nachhören: Bitte klicken Sie hier!


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